Ein Skythe wurde gut 2.500 Jahre nach seinem Tod zu einem Wahrzeichen eines ganzen Landes: Der Goldene Mann von Issyk. Sein Ebenbild krönt heute das Unabhängigkeits-Denkmal in der kasachischen Hauptstadt Astana. Entdeckt wurden die Überreste dieses Skythenfürsten schon im Jahr 1969 in einem Kurgan rund 70 Kilometer südlich der kasachischen Großstadt Almaty.
Viel Gold – und ein rätselhafter Trinkbecher
Auch in seinem Grab fanden die Archäologen damals mehrere tausend Goldobjekte. Jacke, Stiefel und der 70 Zentimeter hohe Spitzhut des jungen Mannes waren mit tausenden von pfeilförmigen Goldplättchen besetzt. Gürtel und Hut waren zudem mit für die Skythen typischen kunstvoll ziselierten goldenen Tierfiguren geschmückt. Neben dem reichen Goldschmuck, Waffen und diversen Keramik-Grabbeigaben ist es aber vor allem ein Gegenstand, der aus dem Rahmen fällt und diese Fundstelle von den meisten anderen Skythen-Funden unterscheidet:
Neben den Überresten des Toten entdeckten die Archäologen eine flache Trinkschale aus Silber. Das Besondere an ihr: Sie trägt eine deutlich erkennbare Inschrift aus Runen – doch die Skythen nutzten nach bisherigem Wissen eigentlich gar keine Schrift. Die mehrere Jahrhunderte lang die eurasische Steppe dominierende Kultur scheint keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen zu haben, trotz all ihrer Kunstfertigkeit als Goldschmiede und Waffenbauer und trotz ihrer Fähigkeit, aufwändige Grabanlagen zu errichten.
Schrift als Organisationshilfe
„Das ist wirklich verwunderlich. Denn in den großen frühesten Zivilisationen, in denen sich Schrift entwickelt hat, geschah dies immer unter ähnlichen Umständen – wenn wir große Bevölkerungskonzentrationen in einer Siedlung oder Stadt haben“, erklärt Hermann Parzinger. „Denn diese Massen an Menschen müssen verwaltet werden – und das führt zwangsläufig zur Entwicklung von Schrift.“
Die frühesten Aufzeichnungen solcher Kulturen sind daher meist wenig kreativ oder erhebend, sondern eher prosaischer Natur: Verzeichnisse von Handelsgütern, Abgaben oder ähnliche Buchhaltungs-Dokumente. Seltsamerweise aber haben die Skythen diesen ersten entscheidenden Schritt hin zu einer Schriftkultur offenbar nicht vollzogen, obwohl auch sie umfangreiche Projekte und Unternehmungen durchführten, bei denen viele Arbeiter und viel Material organisiert und kontrolliert werden mussten.
Feste Siedlung – und trotzdem keine Schrift
„Das ist etwas Ungewöhnliches, denn wir haben auch bei den Skythen am Ende durchaus große, weitläufige Siedlungsanlagen, etwa den Ringwall von Belsk“, sagt Parzinger. Diese bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Anlage in der ukrainischen Waldsteppe umfasst fast schon eine richtige Stadt: In dem rund fünf Kilometer langen Areal innerhalb der schützenden Wallanlage finden sich zahlreiche Wohngebäude, ein Tempel, eine Schmiede sowie zahlreiche Werkstätten zur Metallbearbeitung und für andere Gewerbe.
Reste von Pflügen und Abbildungen von Kulturpflanzen zeugen zudem davon, dass die Bewohner dieser Skythensiedlung aus dem 3. Jahrhundert vor Christus auch bereits Ackerbau betrieben. Entgegen landläufiger Meinung gab es demnach selbst unter den Reiternomaden einzelne Gruppen und Stämme, die zeitweilig oder auch für länger an einem Ort bleiben und sesshaft wurden.
Herkunft ungeklärt
Aber selbst dort finden sich keine Zeugnisse von Schrift, wie der Eurasien-Experte Parzinger erklärt. Umso erstaunlicher ist daher der Fund des beschrifteten Silberbechers im Grab des Goldenen Mannes von Issyk. „Das Bemerkenswerte ist, dass es sich hier in Issyk tatsächlich um eine Art Runenschrift handelt“, sagt Parzinger. Die 26 Runen ähneln denen, die später von Turkstämmen weiter im Süden verwendet wurden, ihre Bedeutung und Herkunft sind aber unklar – auch weil die Inschrift zu kurz ist, um ihre Sprachzugehörigkeit eindeutig zu bestimmen.
Bisher gehen Parzinger und seine Kollegen daher trotz dieses Fundes davon aus, dass die Skythen keine Schrift nutzten. Die Silberschale war möglicherweise ein importiertes Stück, das wegen seiner Seltenheit mit dem Skythenfürsten in Issyk begraben worden war.
Nadja Podbregar
Stand: 16.08.2013