Bevor es in Herz und Eingeweide der größten Maschine der Erde geht, ein kurzer Rückblick auf einen der vielleicht bahnbrechendsten Momente in der Geschichte des LHC.
Es ist der 4. Juli 2012. Das große Auditorium des CEN ist bis auf den letzten Platz gefüllt, ein Großteil des Publikums besteht aus Physikern, die an einem der großen Detektoren des LHC mitarbeiten. Viele der meist jungen Forscher haben schon in der Nacht vor dem Gebäude kampiert, um live bei diesem Ereignis dabei sein zu können. Wer die Chance nicht hat, verfolgt das Ganze per Livestream über das Internet. Denn erwartet wird einer der ganz großen Durchbrüche in der Teilchenphysik: der Nachweis des lange gesuchten Higgs-Bosons.
Dieses so schwer zu fassende Teilchen gilt als der Urheber für eine der Grundeigenschaften aller Dinge: der Masse. Ohne sie wäre das Universum ein völlig anderer Ort: Es gäbe keine Atome und keine normale Materie. Denn die Masse erst sorgt dafür, dass die Grundbausteine der Materie zusammenhalten und miteinander wechselwirken. Lange Zeit aber konnte das Standardmodell der Teilchenphysik – und damit die Basis unseres physikalischen Weltbilds – nicht erklären, woher die Elementarteilchen diese wichtige Eigenschaft haben.
Klumpen im Feld
Erst Mitte der 1960er Jahre entwickelten mehrere Physiker, darunter der Brite Peter Higgs, den Higgs-Mechanismus, eine Theorie, die dieses Manko des Standardmodells beseitigte. Überall im Universum existiert demnach ein sogenanntes Higgs-Feld. Teilchen treten mit diesem unsichtbaren Feld in Wechselwirkung, dadurch bildet es eine Art Klumpen um das Partikel. Dieser Klumpen verleiht ihm seine Masse. „Wenn es diesen Higgs-Mechanismus nicht gäbe, hätten wir keine Substanz, wir würden uns einfach auflösen“, erklärt Joseph Incandela, Sprecher der CMS-Kollaboration am LHC. Doch damit ist das Bild noch nicht vollständig. Denn gibt es den Higgs-Mechanismus, dann muss es auch ein dazugehörendes Teilchen geben – das Higgs-Boson. Doch genau dieses Teilchen ließ sich nicht finden – bis jetzt.
Am 4. Juli 2012, gegen 09:30 Uhr, fällt in Genf der erste entscheidende Satz: „Wir haben ein neues Boson entdeckt mit einer Masse von 125,3 Gigaelektronenvolt“, verkündet der sichtbar aufgeregte Incandela. Wenig später bestätigt auch Fabiola Gianotti, Sprecherin des ATLAS-Experiments, diese Entdeckung. Auch der ATLAS-Detektor habe unabhängig vom CMS Indizien für ein neues Partikel mit der Masse von etwa 126 Gigaelektronenvolt gefunden – und dies ebenfalls mit einer kombinierten Signifikanz von fünf Sigma. Damit ist klar: Es spricht einiges dafür, dass dieses Teilchen – sichtbar nur als kleiner Hubbel in der Kurve der Teilchenzerfälle – das Higgs-Boson sein könnte. Im Durchschnitt entsteht im LHC alle drei Stunden ein solches Higgs, um dann innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder zu zerfallen. Nachweisen lassen sich deshalb nur seine Zerfallsprodukte.
Ein Higgs- und viele offene Fragen
Doch während die Medien das Ereignis in der ganzen Welt verkünden, sind für die Teilchenphysiker damit noch längst nicht alle Fragen gelöst. Denn im März 2013 weisen weitere Analysen der LHC-Daten zwar nach, dass das neuentdeckte Boson tatsächlich den Spin von Null hat, wie es das Standardmodell für das Higgs voraussagt. Aber ob auch die weiteren Eigenschaften dieses Teilchens in das gängige physikalische Weltbild passen, ist noch unbekannt – denn bisher reichen weder die Daten noch die Signifikanzen für weitere Aussagen aus.
Und noch etwas ist offen: „Wir haben ein Higgs gefunden – oder aber eines von mehreren“, erklärt uns CERN-Generaldirektor Rolf Heuer im Juli 2013. Denn Modelle zur sogenannten Supersymmetrie (SUSY) sagen die Existenz von mehreren, möglicherweise bis zu fünf verschiedenen Higgs-Teilchen voraus. Nach den SUSY-Theorien könnte es für jedes Teilchen des Standardmodells einen schwereren supersymmetrischen Partner geben, dessen Spin jeweils um ½ abweicht. Nachgewiesen ist das allerdings bisher nicht. Nur das leichteste der nach diesen Theorien möglichen Higgs-Teilchen passt in das Standardmodell – und genau dieses könnte der LHC gefunden haben.
„Das ist das Schöne an der Forschung: Sie können gewisse Fragen beantworten und dann stellen sich dadurch immer neue Fragen“, so Heuer. Im Falle des Higgs bedeutet das: Die Physiker benötigen mehr und präzisere Daten – sowohl für das Higgs, als auch für die Frage danach, ob es eine Supersymmetrie tatsächlich gibt. Und genau die soll der LHC ab 2015 liefern, dann nämlich, wenn er Protonen und Schwerionen mit fast der doppelten Energie wie bisher aufeinander schleudern kann.
Nadja Podbregar
Stand: 02.08.2013