Zahlreiche Ethologen und Ornithologen haben das Ausdrucksverhalten von Vögeln, insbesondere Balzrituale (z.B. bei Schwimmenten, Haubentauchern, Renntauchern), Demutsgebärden (z.B. beim Honigfresser) und Drohgebärden (z.B. bei Paradiesvögeln) umfassend beschrieben. Die Variabilität und Flexibilität non-vokaler Signale wurde hingegen kaum untersucht. Folglich steckt das Verständnis der zugrunde liegenden kognitiven Komplexität noch in den Kinderschuhen.
Interaktion zeigt Eignung des potenziellen Partners
Die Untersuchungen der Max-Planck-Forscher zum Ausdrucksverhalten von Raben haben jedoch gezeigt, dass Raben hinweisende Gesten verwenden, die in dieser Form bisher nur bei Primaten beobachtet wurden. Im Gegensatz zu Menschenaffen, die hinweisende Gesten vorwiegend einsetzen, um eine Interaktion zu initiieren („Gib mir das“, „Kratz mich hier“), schließen die Raben Gegenstände in ihre kommunikativen Interaktionen ein. Damit lenken sie ähnlich wie Menschen die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger: „Schau hier“.
Die hinweisenden Gesten fanden vorwiegend zwischen Jungraben verschiedenen Geschlechts statt und mündeten in meist positiven sozialen Interaktionen. Sie scheinen daher von den Raben als „Test-Signale“ verwendet zu werden, um das Interesse eines potenziellen Partners zu prüfen.Neben paarspezifischen Vokalisationen könnten somit auch hinweisende gestische Signale eine essenzielle Rolle spielen, um zu testen, ob eine Paarbindung mit diesem potenziellen Partner stimmig und passend wäre. Sie könnten zudem dazu dienen, eine bereits bestehende Paarbindung zu stabilisieren.
Gute Basis für weitere Forschungen
Die neue Studie belegt, dass sich hinweisende Gesten sowohl bei Rabenvögeln als auch bei Menschenaffen im Laufe der Evolution unabhängig voneinander entwickelt haben. Weitere Untersuchungen könnten nun zeigen, welche Umstände – biologisch gesprochen Selektionsdrücke – zur Evolution von hinweisenden Gesten führten. Und auch, welche konkreten Vorteile Individuen von dieser Fähigkeit haben. Diese Vorteile könnte der Mensch möglicherweise vervielfacht haben, als er begann, intentionale Gestik mit gesprochener Sprache zu kombinieren und zu ergänzen.
Das Wissen um diese Gesten bei Raben eröffnet aber auch die Möglichkeit, die kognitiven Leistungen auszuloten, die nötig sind, um hinweisende Gesten zu produzieren und zu verstehen. Dies kann beispielsweise anhand von Vergleichen zwischen der gestischen Komplexität von Kindern, die schon gestikulieren, aber noch nicht sprechen und Rabenvögeln geschehen. Die Studie stärkt außerdem die Hypothese, dass sich kognitiv komplexe Kommunikationssysteme und -signale vorwiegend bei jenen Arten entwickelt haben, die sich – wie Raben und Menschen – durch ein hohes Maß an Kooperation zwischen Individuen, Paaren und/oder Gruppen auszeichnen.
Simone Pika, Max-Planck-Institut für Ornithologie
Stand: 13.07.2012