Italien im Jahr 2011: Vor Gericht steht eine Frau, deren Schuld unzweifelhaft festzustehen scheint: Sie hatte ihre Schwester getötet und dere Leiche verbrannt, anschließend unternahm sie einen Mordversuch an ihren Eltern, der aber scheiterte. Doch die Richter verurteilen die geständige Mörderin nur zu 20 Jahren Haft – anstelle von lebenslänglich. Wie kann das sein? Das vergleichsweise milde Urteil verdankt die Täterin Bildern von ihrem Gehirn, die dem Gericht präsentiert wurden. Die Aufnahmen belegen, dass sie im Vergleich zu Kontrollpersonen ein geringeres Hirnvolumen besitzt. Besonders der cinguläre Cortex und die Inselrinde sind verkleinert. Letztere spielt unter anderem eine Rolle für die Fähigkeit zur Empathie, das Liebesempfinden und die Bewertung von Schmerzen.
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Damit nicht genug, warten die Verteidiger der Frau mit weiteren medizinsche Argumenten auf: Die Täterin ist Trägerin eines Risiko-Gens auf dem X-Chromosom, das mit einem Hang zu aggressivem Verhalten einhergeht. Bei ihr ist das sogenannte MAO-A-Gen mutiert und das hat Auswirkungen auf den Haushalt wichtiger Hirnbotenstoffe. Normalerweise ist das Gen eine Bauanleitung für die so genannte Monoaminooxidase A, ein Enzym, das am Abbau von Serotonin und anderen Neurotransmittern beteiligt ist. Ist diese Bauanleitung beschädigt, wird Serotonin nicht oder nicht ausreichend abgebaut. Dadurch bleibt es zu lange im synaptischen Spalt und erzeugt ein Überangebot. Dies wiederum kann das Verhalten verändern, beispielsweise zu Unruhe, Aggression und ähnlichem führen.
Das Brunner-Syndrom
Der Niederländische Genetiker Han Brunner von der Universität Nijmegen entdeckte diese Mutation 1993 bei einer Familie, deren männliche Mitglieder durch ihr aggressives Verhalten und ihren Hang zur Kriminalität auffielen. Bei allen war das MOA-A-Gen so stark verändert, dass keinerlei Monoaminooxidase A mehr produziert wurde. Die Erbkrankheit heißt heute Brunner-Syndrom. Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Mutationsformen dieses Gens, die weniger eindeutige Auswirkungen haben.
2002 stießen Forscher im Rahmen der Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study auf einen weiteren Aspekt dieser Genveränderung: Sie hatten Männer untersucht, die in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, beispielsweise durch Prügel oder Vernachlässigung. Es zeigte sich: Männer mit einem defekten MOA-A-Gen trugen auch als Erwachsene deutliche Spuren ihrer Vergangenheit: Sie waren aggressiver und antisozialer als Männer mit normalhohen MOA-A-Werten.
Was aber heißt das vor Gericht? Zumindest für italienische Richter scheint ein defektes MOA-A-Gen durchaus entlastend zu wirken. 2009 gstanden sie einem Mörder wegen einer solchen Mutation strafmildernde Umstände zu…
Stefanie Reinberger / dasgehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenar
Stand: 08.06.2012