1956, Savannah River im US-Bundesstaat South Carolina. Auf dem Gelände des Atomkraftwerks Savannah River ist eine Gruppe Wissenschaftler fieberhaft bei der Arbeit. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit: Drei Stahltanks, die noch auf der Ladefläche eines Lastwagens vor dem Reaktorgebäude stehen. Jeder von ihnen ist mit mehr als tausend Litern einer Lösung aus Wasser und Kadmiumchlorid gefüllt. Sie werden benötigt, um einen neuartigen Detektor im Keller des Reaktorgebäudes zu befüllen – einen der ersten großen Neutrinodetektoren der Welt.
Aber wie lässt sich ein Teilchen einfangen oder nachweisen, das kaum mit Materie wechselwirkt? Eine Idee dazu hat bereits Jahre zuvor der Kernphysiker Enrico Fermi im Zusammenhang mit dem radioaktiven Betazerfall, wie er beispielsweise bei Nuklearexplosionen oder im Atomreaktor stattfindet. Dabei wandelt sich ein Neutron zu einem Proton um, indem es eine negative Ladung – das Elektron – abgibt. Gleichzeitig, so Fermi, müsse dabei ein Antineutrino entstehen. Soweit, so schwer nachweisbar. Aber die Umwandlungskette geht noch weiter: Trifft das Antineutrino wiederum auf ein Proton, löst dies erneut einen Ladungswechsel aus. Das Proton wird zum Neutron, das Antineutrino zu einem Positron – dem positiv geladenen Antimaterie-Gegenpart eines normalen Elektrons.
Lichtblitz verrät Antineutrino-Folgeprodukte
Und dieser sogenannte inverse Betazerfall eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Denn trifft das Positron auf ein Elektron – was in einer Umwelt aus normalen Atomen kaum vermeidbar ist – löschen sich beide gegenseitig aus. Dabei entsteht ein winziger Lichtblitz. Und genau dieser Lichtblitz lässt sich mittels extrem empfindlicher Photodetektoren nachweisen. Weil dieser ganze komplizierte Prozess nur dann stattfindet, wenn Antineutrinos anwesend sind, kann dieser indirekte Nachweis letztlich ihre Existenz belegen. Und gibt es Antineutrinos, so die Logik der Forscher, dann muss es auch ihren Gegenpart, die Neutrinos geben. Nachweisen wollen sie diese im „Project Poltergeist“.
Die drei Detektortanks am Atomreaktor von Savannah River sind daher auch nichts anderes als extrem sensible Fallen für Mini-Lichtblitze: In ihren Wänden sitzen jeweils 110 Photodetektoren, die diese Spuren der Antineutrinos registrieren. Der nur durch eine elf Meter dicke Hülle vom Detektor getrennte Atomreaktor sorgt dabei für den steigen Nachschub, denn er müsste, so haben die Forscher ausgerechnet, Billionen von Antineutrinos pro Sekunde erzeugen.
Es dauert allerdings fünf Monate und mehr als 1.000 Beobachtungsstunden, bis Clyde Cowan, Frederick Reines und ihr Team die entscheidenden Daten zusammen haben. Ihre Ausbeute: Etwa drei leuchtende Indizien für ein Antineutrino pro Stunde. Ihr Ergebnis wollen die Forscher auch dem „Erfinder“ der Neutrinos nicht vorenthalten:
Am 14. Juni 1956 ist Wolfgang Pauli im Kernforschungszentrum CERN bei Genf gerade in einer Sitzung, als ihm ein Telegramm der amerikanischen Forscher überreicht wird: „Wir sind glücklich, Sie darüber informieren zu dürfen, dass wir eindeutig Neutrinos aus Zerfallsprozessen nachgewiesen haben, indem wir den inversen Betazerfall von Protonen beobachtet haben.“ Seine 26 Jahre alte Theorie eines zusätzlichen Teilchens ist damit endgültig bewiesen – die Neutrinos gibt es wirklich.
Nadja Podbregar
Stand: 11.05.2012