Kaum sind sie nachgewiesen, werfen die schwer fassbaren Geisterteilchen schon neue Fragen auf. Schnell zeigen Experimente, dass Neutrinos und Antineutrinos nicht nur beim Atomzerfall in Kernreaktoren entstehen, sondern auch durch natürliche Prozesse. Einer davon ist die Kernfusion in der Sonne und anderen Sternen. Ständig rasen gewaltige Mengen von Neutrinos aus dem All durch die Erde und alles Leben auf ihr. Ihre Spuren hinterlassen die Teilchen als Lichtblitze in den gewaltigen Detektoren, die an verschiedensten Orten der Welt entstehen.
Aber irgendetwas stimmt nicht mit den Werten: Denn den Messungen der Detektoren nach sendet die Sonne sehr viel weniger Neutrinos aus, als es theoretische Berechnungen und Modelle ermittelt haben. Sind die Modelle der solaren Fusion falsch? Oder haben die Forscher bei den Neutrinos vielleicht noch irgendetwas Wichtiges übersehen?
Lichtblitze im Schweren Wasser
Eine Antwort darauf liefert im Jahr 2001 das 2.000 Meter tief unter der Erdoberfläche liegende Sudbury Neutrino Observatory (SNO) im kanadischen Bundesstaat Ontario. Der auf diese Weise gut gegen andere kosmische Teilchen isolierte Detektor des SNO besteht aus einem gewaltigen, kugelförmigen Tank aus Acrylglas in einer wassergefüllten Kaverne. Der Tank enthält tausend Tonnen schweres Wasser – Wasser, dessen Wasserstoffatome im Kern ein zusätzliches Neutron enthalten. Trifft ein Neutrino auf ein solches Deuterium-Atom, wird das Neutron zu einem Proton und einem Elektron. Dieses bei diesem Betazerfall entstehende Elektron rast so schnell durch das Wasser, dass es dabei eine bläuliche Leuchtspur hinterlässt, die sogenannte Tscherenkow-Stahlung.
Wieder sind es Photodetektoren, die dieses Indiz für eine Neutrino-Kollision aufzeichnen. 9.600 Stück davon säumen den unterirdischen Tank im SNO. Und tatsächlich werden sie rund zehn Mal am Tag fündig. Und auch sie registrieren weniger Sonnenneutrinos, als es eigentlich sein müssten. Aber sie finden noch etwas: Signale über eine andere Detektormethode, die darauf hindeuten, dass zusätzliche Neutrinos im Tank unterwegs sind – Neutrinos, die den Betazerfall des Deuteriums offenbar nicht auslösen und daher zumindest in Teilen andere Eigenschaften besitzen müssen.
Das ist eine echte Sensation. Zeigt es doch, dass es nicht nur eine Sorte von Neutrinos gibt, sondern offenbar mehrere verschiedene. Aber woher kommen sie? Denn die Sonne produziert, das zeigen die theoretischen Modelle, definitiv die bereits bekannte Neutrinosorte, die sogenannten Elektronen-Neutrinos. „Wir gehen davon aus, dass die Diskrepanz durch Veränderungen in den Neutrinos selbst ausgelöst wird“, erklärt Art McDonald, Projektleiter vom SNO, im Juni 2001 die Ergebnisse. Offenbar, so sind sich die Forscher einig, wechseln die Neutrinos im Flug ihre Identität.
Drei oszillierende Geschmäcker
Wenig später ist klar: Neutrinos können tatsächlich drei verschiedenen Identitäten annehmen – oder auch drei „Flavours“, wie die Teilchenphysiker es nennen. Diese sind allerdings alles andere als dauerhaft festgelegt. Ein in der Sonne geborenes Elektron-Neutrino kann auf seinem Weg zur Erde mehrfach zwischen diesen Geschmäckern hin- und herwechseln – es oszilliert. Ob es dann als Elektron-Neutrino, als Tau-Neutrino oder als Myon-Neutrino reagiert, entscheidet sich im Prinzip erst bei seiner Kollision mit Materie.
Und diese Oszillation erklärt auch die vermeintlich fehlenden Sonnenteilchen: Denn die meisten bis dahin existierenden Neutrino-Detektoren können nur einen einzigen Typ von Neutrinos nachweisen, die Elektron-Neutrinos. Alle restlichen bleiben für sie unsichtbar. Kein Wunder also, dass ihre Messwerte nur einen Bruchteil der tatsächlich von der Sonne ausgehenden Neutrinos zeigen. Inzwischen haben Detektoren, die auch die anderen Flavours nachweisen können, die Sonnenmodelle rehabilitiert: Messungen und Theorie passen ziemlich gut überein, wenn man alle Geschmäcker miteinbezieht.
Nadja Podbregar
Stand: 11.05.2012