Eigentlich hatten die Forscher nur nach Schmerz-Genen gesucht, doch gefunden haben sie etwas völlig Unerwartetes: Die Wiener Molekularbiologen Josef Penninger und Greg Neely und ihr Kollege, der Neurobiologe Clifford Woolf von der Harvard Medical School untersuchen 2010 in einer großangelegten Studie systematisch alle Gene der Fruchtfliege Drosophila auf ihre Rolle bei der Schmerzempfindung. Sie wollen wissen, warum die Intensität eines Schmerzes von jedem Menschen anders empfunden wird. Zwillingsstudien haben zuvor bereits Indizien dafür geliefert, dass es hier eine genetische Komponente geben könnte.
Die Fruchtfliege als gängiges und gut manipulierbares genetisches Modell soll einen ersten Aufschluss liefern. Mittels RNA-Interferenz schalten die Wissenschaftler in ihrer Studie Gen um Gen einzeln aus und überprüfen, wie die Insekten danach auf einem Hitzereiz reagieren. Fliehen die Tiere nicht, ist ihr Schmerzempfinden offenbar herabgesetzt und das gerade blockierte Gen muss daran beteiligt sein.
Schmerzgen α2δ3 im Visier
Tatsächlich finden sich bei Drosophila gleich 600 Gene, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Von diesen erscheint eines aber besonders vielversprechend: Das Gen α2δ3 ist für die Bewegung von Kalzium-Ionen durch Zellmembranen verantwortlich, ein Mechanismus, in den beim Menschen einige gängige Schmerzmittel eingreifen. Deshalb beschließen Penninger und seine Kollegen, dieses Gen bei Mäusen gezielt zu deaktivieren und den Verlauf des Schmerzsignals im Mäusehirn mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) abzubilden und zu verfolgen. Die Aufnahmen zeigen auf den ersten Blick nichts Auffälliges: Die Signale kommen ganz normal im Thalamus – einer ersten Schaltzentrale des Gehirns – an.
Mäuse werden zu Synästheten
Dann aber die Überraschung: Vom Thalamus aus wird der Reiz nicht wie erwartet einfach an die Gehirnrinde weitergeleitet, wo der Schmerz bewusst wird. Stattdessen tauchen Aktivitätsmuster in mehreren anderen Gehirnregionen auf, die für optische, akustische, oder olfaktorische Eindrücke stehen. Allem Anschein nach sehen, hören oder riechen die genveränderten Mäuse den Schmerz anstatt ihn zu fühlen. Sie sind plötzlich zu Synästheten geworden.
„Diese Ergebnisse kamen für uns völlig unerwartet“, so Penninger. „Wir haben überhaupt nicht nach synästhetischen Phänomenen gesucht. Mit den α2δ3 -Mutanten haben wir vermutlich das erste Tiermodell zur Hand, an dem sich Synästhesie studieren lässt – ein ganz neuer Zweig der Neurobiologie.“
Die Entdeckung eines ersten Synästhesie-Gens und die neuen Möglichkeiten, seine Wirkung zu erforschen, könnten zukünftig auch eine weitere bisher offene Frage klären: Warum ist die Synästhesie trotz vermutlich gleicher genetischer Basis so individuell?
Nadja Podbregar
Stand: 06.05.2011