Mitte des 20. Jahrhunderts kippte die Begeisterung für die bunte Welt der Synästhesie plötzlich. In der Wissenschaft hielten strikt objektive Kriterien Einzug. Nur was berechnet, gemessen oder auf andere Weise „dingfest“ gemacht werden konnte, war real und forschungswürdig. Die subjektiven Eindrücke der Synästheten passten da nicht ins Bild. Sie galten nun als psychologische Aberration, als Einbildung oder Störung. Diese Einstellung hat sich in der Forschung bis Ende der 1980er Jahre, in der Gesellschaft aber weit länger gehalten.
Ablehnung und Verunsicherung
„Ich dachte, alle wären so, bis ich mit Schulfreunden darüber sprach, als ich etwa zehn Jahre alt war“, erzählt die Synästhetin Dorothy Latham in einem Radiointerview der BBC. „Die sagten dann: ‚Du bildest dir das ein‘, ‚Du bist eine Irre‘ und deshalb redete ich nicht mehr darüber.“ Diese ablehnenden Reaktionen sind kein Einzelfall. Und möglicherweise wäre die Reaktion ihrer Umwelt sogar sehr viel gravierender und folgenreicher ausgefallen, hätte sie woanders gelebt. Denn noch vor wenigen Jahren wurden Kinder und Jugendliche, die allzu frei mit ihren synästhetischen Erfahrungen hausieren gingen, nicht selten schlicht für verrückt erklärt. Ihnen drohte oft sogar eine psychiatrische Behandlung bis hin zur Einweisung.
Dass dies teilweise sogar noch immer so ist, sieht der Psychologe und Synästhesieforscher Sean A. Day in seinem Arbeitsalltag häufig. Nicht nur die Eltern oder Verwandten von Synästheten sind oft verunsichert und wissen nicht, ob und wie sie reagieren sollen. Auch Psychologen, Psychiater und Neurologen sind, so der Forscher, manchmal erschreckend uninformiert: „Ein Jugendlicher von beispielsweise 13 Jahren, der Aspekte seiner Synästhesie seinen Eltern, Lehrern, Hausärzten und Spezialisten berichtet, wird heute in den meisten Orten der Welt wahrscheinlich noch immer als schizophren oder einfach gestört diagnostiziert – selbst in Kanada und den USA“, so die Erfahrung von Day.
Er berichtet beispielsweise von einem Mädchen in Japan, das Farben sah, wenn es Musik hörte. Ihre Eltern, die dies als ernsthafte psychische Störung ansahen, hatten nach Besuchen bei Spezialisten innerhalb von nur drei Monaten dafür gesorgt, dass das Mädchen eingewiesen und mit schwersten Psychopharmaka behandelt wurde –zu „ihrem eigenen Besten“, wie es hieß. Diese Reaktionen sind umso erstaunlicher, als dass Synästhesie nicht in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) der WHO gelistet ist und beispielsweise von der American Medical Association explizit als gutartig und nicht behandlungsbedürftig eingestuft wurde.
Späte Renaissance
Um mehr Aufklärung zu schaffen und sich gegenseitig zu unterstützen, sind inzwischen auch die Synästheten selbst aktiv geworden. In vielen Ländern gibt es heute Organisationen und Verbände, die beispielsweise Treffen arrangieren, Websites und Foren für und über das Phänomen der Synästhesie betreiben und für Medienpräsenz sorgen. Sie haben dazu beigetragen, dass die meisten Menschen die Synästhesie heute wieder als eine faszinierende, vielleicht sogar beneidenswerte Gabe sehen – als einen Einblick in die einzigartige und vielseitige Innenwelt unseres Gehirns.
Die parallel stattfindendende Renaissance der Synästhesieforschung sorgt dafür, dass sich auch in punkto Forschung in den letzten Jahren wieder einiges tut. Die Zentren liegen dabei vor allem in den Kalifornien und Großbritannien, wo weiterhin versucht wird, die zugrundeliegenden Prozessen und Mechanismen zu entschlüsseln.
Nadja Podbregar
Stand: 06.05.2011