Raumfahrt

Kampf um die „Wunderwaffe“

Wernher von Brauns A-4 als Ursprung zweier konkurrierender Raketenindustrien

So spinnefeind sich die beiden Supermächte USA und Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in den 1950er und 60er Jahren auch sein mögen: Die Wurzeln ihrer beider Raketen- und Raumfahrttechnologie haben sie gemeinsam. Sie reichen zurück bis in die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und zu einem Mann: dem deutschen Ingenieur Wernher von Braun.

Wernher von Braun mit hohen Militärs des 3. Reichs in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Jahr 1941 © Bundesarchiv, Bild 146-1978-Anh.024-03 / cc-by-sa 3.0 de

Zuerst in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, später im „Mittelwerk“ nahe dem thüringischen Ort Nordhausen entwickelt von Braun für Hitler die „Wunderwaffe“. Durch skrupellosen Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen treibt der Ingenieur noch im letzten Kriegsjahr die Entwicklung seiner Rakete „A-4“ so weit voran, dass sie 1944 die Basis für die verheerenden V2-Angriffe auf London und weitere alliierte Ziele bilden kann. Mehr als 7.000 Menschen sterben allein in der englischen Hauptstadt durch die Raketen.

Doch nicht nur in Bezug auf ihre Tödlichkeit, auch in technischer Hinsicht übertrifft die A-4 mit ihrer maximalen Reichweite von 300 Kilometern und der Fähigkeit, in Höhen von bis zu 90 Kilometer aufzusteigen, alles bisher Dagewesene. Sowohl für die USA als auch für die Sowjetunion gibt es daher zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel, wo das ambitionierteste und fortgeschrittenste Raketenprogramm der Welt sitzt. Entsprechend fieberhaft sind ihre Versuche, sich die begehrte Technologie anzueignen.

Puzzlespiel mit Wrackteilen

Moskau, Sommer 1944, geheimes Forschungszentrum NII-1. Hier hat die Sowjetunion einige ihrer talentiertesten Ingenieure zusammengezogen, um das Geheimnis der A-4 zu knacken. Erste Chancen bieten Wrackteile, die nach Abstürzen hinter den sowjetischen Linien geborgen wurden. „Ein Haufen von Stahl, gebrochenem Glas, elektrischen Kabeln und zerschlagenem Gehäuse wurde in den Konferenzraum unseres Instituts gebracht“, erinnert sich später der russische Ingenieur Alexey Isajew. „In den nächsten zwei Monaten wurde der Raum ein Labor, in dem Raketenentwickler Hitlers ‚Wunderwaffe‘ aus Bruchstücken von Metallplatten, Aluminium und Elektronenröhren rekonstruierten.“

Halbfertige Raketen in einem Montagestollen für V-Waffen im "Mittelwerk", gefunden 1945 bei Kriegsende © Bundesarchiv, Bild 183-1985-0123-027 / CC-by-sa 3.0 de

Bei solchen Wrackteilen bleibt es auch nach Kriegsende: Während die Amerikaner von Braun, die meisten seiner Mitarbeiter und zahlreiche intakte A-4-Raketen erbeuten und in die USA bringen, finden die Sowjets, als sie nach Rückzug der amerikanischen Truppen Nordhausen erreichen, wieder nur halbzerstörte, teilweise bewusst unbrauchbar gemachte Fragmente vor. Stalin soll erklärt haben: „Das ist absolut intolerabel. Wir haben die Nazi-Armeen geschlagen, wir haben Berlin und Peenemünde eingenommen, aber die Amerikaner bekommen die Raketeningenieure.“

Koroljow, der russische „Wernher von Braun“

Nur einige wenige deutsche Ingenieure sind übriggeblieben und werden von den Sowjets, teilweise unter Zwang, zur Mithilfe verpflichtet. Aus der Not eine Tugend machend, beginnt das sowjetische Raketenkonstruktionsbüro OKB-1 unter der Leitung von Sergej Koroljow in den folgenden Jahren, eine eigene Reihe von A-4-Raketen, die R-1-Baureihe, zu entwickeln – primär für militärische Zwecke, als Interkontinentalraketen.

Das sowjetische Raketengenie Sergej Koroljow 1937. © Russisches Regierungsarchiv für wissenschaftlich-technische Dokumentation

Koroljow, der 1938 im Zuge der „großen Säuberungen“ von Stalin zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, wurde erst 1944 auf Bestreben des Flugzeugbauers Andrej Tupolew freigelassen und dem Raketenprogramm der Sowjetunion zugeteilt. Er gilt heute als der „Wernher von Braun des Ostblocks“ und als ähnlich genial. Ohne ihn hätte der erste Mensch im All sicherlich keinen russischen Namen getragen, darin sind sich Historiker, aber auch Zeitgenossen einig. Sein Beitrag zur sowjetischen Raumfahrt bleibt aber bis nach seinem Tod streng geheim. Westliche Geheimdienste kennen ihn maximal als „Mister X“.

„Koroljow war ein brillanter Ingenieur und eine schillernde Persönlichkeit […]“, charakterisiert ihn der bekannte russische Physiker und Dissident Andrei Sacharow, der zeitweilig mit ihm zusammenarbeitete. „Koroljow träumte vom Kosmos und er hielt an diesem Traum fest während seiner gesamten Jugend und während seiner Zeit mit der berühmten Raketenantriebs-Forschungsgruppe GIRD.“ Als Koroljow mit Kriegsende endlich wieder im Bereich der Raketenforschung arbeiten darf, ist er fest entschlossen, sich diese Chance nicht wieder nehmen zu lassen.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. 10
  22. |
  23. 11
  24. |
  25. weiter

Nadja Podbregar

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Roter Orbit
Juri Gagarin wird der erste Mensch im Weltraum

Der erste Mensch im Orbit
Ein Tag im April verändert die Welt

Kampf um die „Wunderwaffe“
Wernher von Brauns A-4 als Ursprung zweier konkurrierender Raketenindustrien

„Nur im Reich der Fantasie“
Tichonrawow und die ersten Pläne für bemannte Raumkapseln

Der Sputnik-Schock
Der erste Satellit und die ersten Vorbereitungen auf einen bemannten Flug

Wer darf fliegen?
Die Auswahl der Kosmonauten

Die Vorhut
Die ersten Tests und das Nedelin-Desaster

Endspurt ins All
Kopf an Kopf für Mercury und Wostok

Countdown
Die letzten Stunden vor dem Start

Der erste Flug
Einmal um die Welt in eineinhalb Stunden

Triumpf und Niederlage
Gagarins Landung und wie es weiterging

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

keine News verknüpft

Dossiers zum Thema

Astronaut auf dem Mond

Mission Artemis - Das neue Mondprogramm der USA – und seine Erfolgsaussichten