Die meisten Migräne-Betroffenen sind damit in ihrer Familie nicht allein, meistens leidet auch mindestens ein Elternteil an der Krankheit. Diese nicht zufällige Verteilung ist es auch, die einige Migräneforscher sehr bald weg von der Nervenphysiologie und hin zu einem ganz anderen Bereich bringt – zu den Genen.
Ein erstes Gen auf Chromosom 19
Zahlreiche Indizien sprechen für eine vererbte Komponente der Migräne, jetzt muss nur noch das passende Gen gefunden werden. 1993 dann ein erster Hinweis: In „Nature“ weist ein französisches Forscherteam ein erstes Migräne-Gen auf Chromosom 19 nach. Diese in einer von Migräne betroffenen Familie gehäuft auftretende Mutation stört vermutlich die Funktion eines Kalziumkanals in der Zellmembran und damit den Ionenhaushalt von Nerven. „Die Daten sind eindeutig“, kommentiert der Migräneforscher Stephen Peroutka daraufhin. „Migräne ist eine genetisch-bedingte Krankheit. Menschen mit einem Elternteil mit Migräne besitzen eine rund 50-prozentige Chance, selbst Migräne zu bekommen.“
Zu diesem Zeitpunkt bezieht sich diese Aussage allerdings nur auf die so genannte familiäre hemiplegische Migräne, eine eher seltene Spezialform, bei der halbseitige Lähmungen die Attacken begleiten. Bei Patienten mit „normaler“ Migräne findet sich diese Mutation nicht. Wenig später aber finden andere Forscher weitere verdächtige Gene, unter anderem auf Chromosom 4 und 1.
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Genmutation verändert Glutamat-Haushalt
Einen wichtigen Durchbruch erreicht im Juni 2010 die Studie eines internationalen Konsortiums, das zum ersten Mal eine genomweite Durchmusterung auch bei Patienten mit „normaler“ Migräne durchführt. Die Forscher vergleichen dafür vielversprechende Abschnitte im Erbgut von insgesamt mehr als 33.000 Migränepatienten aus Finnland, Deutschland und den Niederlanden mit denen von mehr als 60.000 Nicht-Migränikern. „Dies ist das erste Mal, dass wir in das Erbgut von vielen Tausend Menschen schauen können und genetische Indizien finden, um die normale Migräne zu verstehen“, erklärt Aarno Palotie, Leiter des International Headache Genetics Consortium am Wellcome Trust Sanger Institute.
Und der Aufwand lohnt sich: Bei der Auswertung der Vergleichsdaten stellen die Wissenschaftler fest, dass Migränepatienten deutlich häufiger eine bestimmte DNA-Abfolge zwischen zwei Genen auf Chromosom 8 aufweisen. Eine Mutation an dieser Stelle scheint demnach ein signifikant höheres Risiko für Migräne mit sich zu bringen. Und auch den Mechanismus entdecken die Wissenschaftler: Die Genvariante löst eine Prozesskette aus, die letztlich die Aktivität des so genannten EAAT2-Gens um etwa 20 Prozent herunterreguliert. Das Gen produziert ein Protein, das dafür verantwortlich ist, den Neurotransmitter Glutamat aus den Synapsen des Gehirns zu entfernen.
Basis für „China-Restaurant-Migräne“
Glutamat ist nicht nur ein im Gehirn wirksamer Botenstoff, es findet sich auch als Geschmacksverstärker in nahezu allen Fertigprodukten der Lebensmittelindustrie. Schon seit längerem stehen diese im Verdacht, bei Migränikern eine Attacke auslösen zu können, gerne auch als „China-Restaurant-Migräne“ bezeichnet. Das jetzt entdeckte Gen könnte zumindest zum Teil die Empfindlichkeit erklären: Ist es mutiert, wird das überschüssige Glutamat nicht abgebaut. Bekannt ist auch, dass die Kalziumabgabe über die Membrankanäle der Nervenzellen und die Produktion von körpereigenem Glutamat eng verbunden sind.
Wo sich aber das neue Migränegen in die konkurrierenden Erklärungsmodelle der Migräneattacke einfügt, ist weiterhin strittig. Führt der Glutamat-Überschuss zur Depolarisation der Nervenzellen und damit zur kortikalen Depression? Oder löst das Glutamat über einen noch unbekannten Mechanismus direkt den Kopfschmerz aus? Weitere Studien müssen dies nun zeigen. Klar scheint nur, dass vermutlich auch dieses Gen nicht das einzige und letzte bleiben wird. Denn viele Migräneforscher vermuten einen polygenen Ursprung – ein Krankheitsbild, das auf mehrere oder aber einzelne unterschiedliche Gene zurückgeht.
Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011