Für die meisten Betroffenen ist Migräne eine echte Plage: die quälenden Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Bedürfnis, sich bei einem Anfall sofort von allem zurückzuziehen und Ruhe und Dunkelheit zu suchen. Für den Alltag bedeutet dies im Extremfall empfindliche Einschnitte: „Die Kopfschmerzen stehlen einem so viel vom Leben“, schreibt Migränikerin Kerrie Smyres in ihrem Blog. „Die Liste ist lang, aber sie umfasst Arbeit, Beziehungen, Kinder, Selbstrespekt, Ehrgeiz und Identität.“
Doch es gibt auch eine ganz andere Seite der Migräne: Einigen Betroffenen bringt sie neben Schmerzen und negativen Folgen auch Positives: Sie entwickeln außergewöhnliche Talente – nicht trotz, sondern sogar wegen ihrer Migräne.
Kreativitäts-Schub nach dem Anfall
Der Neurologe Oliver Sacks berichtet in seinem Blog von einem Patienten, einem äußerst kreativen Mathematiker, der trotz großer Schmerzen seine Migräne nicht mehr missen möchte. Zwar leidet er allwöchentlich beginnend ab Mittwoch unter einer sich bis Sonntag verschlimmernden Attacke, doch wenn diese dann am Sonntagabend abklingt, fühlt er sich wie neugeboren. Die Migräne löst einen Schub von Energie und Kreativität aus, dem der Wissenschaftler am Montag und Dienstag seine besten Einfälle verdankt.
„Ich verschrieb ihm ein Medikament um die Migräneanfälle zu verhindern, glaubend, dass er dann sieben Migränefreie Tage für seine kreative Arbeit hätte“, erzählt Sacks. „Doch bald schon kam er zurück und berichtete, dass mit der Migräne auch seine Kreativität verschwunden sei. Offenbar ‚brauchte‘ er auf eine seltsame, komplexe Weise seine Migräne sogar.“ Auch die englische Schriftstellerin George Eliot, im 19. Jahrhundert berühmt für ihre Romane „Middlemarch“ oder „The Mill on the Floss“, erlebte einen belebenden Einfluss der Migräne. Sie schrieb, dass sie sich direkt vor einem Anfall immer „gefährlich gut“ fühlte.
Inspiration für Visionen und Malerei
Die berühmte mittelalterliche Philosophin und Mystikerin Hildegard von Bingen könnte ihre außergewöhnlichen Visionen ihrer Migräne verdankt haben. Sie schreibt sie zwar göttlicher Inspiration zu, doch nach Ansicht von Neurologen lassen ihre Beschreibungen verblüffende Ähnlichkeiten zu visuellen Auraphänomenen erkennen: „Ich sah einen großen Stern, wunderbar und schön, und mit ihm eine sich vermehrende Vielzahl fallender Sterne“, schreibt sie. „Und plötzlich waren sie alle ausgelöscht und verwandelten sich in schwarze Kohlen.“
Die faszinierenden Formen und Farben der visuellen Aura könnten auch bei einigen bekannten Künstlern eine wichtige Rolle gespielt haben. So litt der italienische Maler Giorgio di Chirico, einer der Hauptvertreter der „Metaphysischen Malerei“, seit seiner Kindheit unter Migräne mit Aura. Seine seltsam verzerrten, traumähnlichen Architekturansichten sind möglicherweise ebenfalls durch die frühen Erfahrungen mit visuellen Migränephänomenen inspiriert. Auch der große Surrealist Salvador Dali war Migräniker, ob dies allerdings seine Kunst beeinflusste, ist nicht bekannt.
Musik: Zwischen Alpträumen und Eispickeln
In der Musik scheint die Migräne einen deutlich geringeren Einfluss auf das künstlerische Schaffen zu haben – zumindest sind hier deutlich weniger Fälle bekannt. Sowohl von Gustav Mahler als auch vom französischen Komponist Charles Gounod weiß man aber, dass sie Migräniker waren. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass dies ihre Kompositionen beeinflusst hat.
Claude Debussy beschreibt dagegen 1898 in einem Brief Migräne-induzierte musikalische Träume, die er während seiner Arbeit an dem Stück „Pelléas et Melisande“ erlebte: „Während der letzten Krise – sie dauerte acht Stunden – hatte ich höchst bemerkenswerte Alpträume: Ich assistierte bei einer Probe von Pelléas und plötzlich verwandelte sich Golaud in einen Gerichtsvollzieher und passte die Formulierungen seines Auftrags an die Noten der Musik an.“
Die moderne New Yorker Komponistin Annie Gosfield nutzt die Musik vor allem als Hilfe gegen die akute Migräne. „Komponieren kann mich manchmal aus der Migräne holen: Das Arbeiten allein in einer kontrollierten Umgebung kann mich zumindest vom Eispickel in meinem Kopf ablenken“, schreibt sie an Oliver Sacks in seinem Blog. „Ich habe festgestellt, dass die Konzentration, die ich während der starken Schmerzphasen für meine Arbeit benötige, mir manchmal einen anderen Ansatz bringt.“
Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011