Karlsruhe, 3. September 1860. Im zweiten Sitzungssaal des Karlsruher Ständehauses herrscht angeregtes Gemurmel. 140 meist in festlich-dunkle Anzüge gewandete Männer begrüßen sich, diskutieren, gestikulieren. Dann schließlich geht es los. Karl Weltzien, Chemiker an der Polytechnischen Schule in Karlsruhe und Initiator der Versammlung, betritt das Rednerpult und beginnt zu sprechen: „Als provisorischer Vorsitzender habe ich die Ehre einen Kongress zu eröffnen, der ohne Beispiel ist, den es so nie zuvor gegeben hat. Zum ersten Mal haben sich hier die Vertreter einer einzigen und tatsächlich der neuesten Naturwissenschaft versammelt.“
Mit diesen Worten wird der erste internationale chemische Kongress eröffnet – ein Kongress, der Geschichte machen wird. Denn er erweist sich als Katalysator für einige der bedeutendsten Fortschritte der modernen Chemie. Er bringt die führenden Köpfe der noch jungen Fachrichtung zusammen, darunter berühmte Forscher wie Robert Bunsen, August Kekulé, Jean-Baptiste Dumas, Carl Fresenius und Louis Pasteur.
Chaos der Atomgewichte
Noch aber wird heftig gestritten, diskutiert und gerungen. Denn es geht um nichts weniger als um die Basis aller Dinge: die Atome. Oder genauer gesagt die Atomgewichte. Zwar sind sich alle einig, dass Atome die unteilbaren Grundbausteine der Materie sind. Aber es existieren gleich sechs verschiedene Arten, wie das Gewicht von Atomen deklariert wird. Während die einen Wasserstoff als Maß aller Dinge sehen und sein Atomgewicht als 1 definieren, sehen andere beispielsweise den Sauerstoff als maßgebend und orientieren alle anderen Atomgewichte nach ihm. Das aber schafft nicht nur Verwirrung, es macht es auch schwer zu entscheiden, ob ein analysierter Stoff ein Element ist oder nicht.
Unter den Teilnehmern des Kongresses ist auch ein junger russischer Chemiker, Dmitri Mendelejew. Aus der tiefsten russischen Provinz kommend, der Stadt Tobolsk östlich des Urals, hat es Mendelejew geschafft, an der renommierten Universität in Sankt Petersburg zu studieren. Nun, nach seiner Graduierung als Magister, hat man ihn sogar auf zweijährige Studienreise nach Frankreich und Deutschland geschickt. Als Doktorand im Heidelberger Labor von Robert Bunsen, später von Gustav Kirchhoff, beschäftigt sich Mendelejew vor allem mit der physikalischen Chemie, darunter dem spezifischen Volumen von Flüssigkeiten und der Messung der Molekülgewichte.
Eine italienische Lösung
Am dritten und letzten Tag des Kongresses hält der italienische Chemiker Stanislao Cannizarro seine Rede. Um das Dilemma der Atom- und Molekülgewichte zu lösen, schlägt er eine Methode vor, die auf das Gasgesetz seines Landsmanns Amadeo Avogadro zurückgeht. Dieser postulierte, dass in einem idealen Gas bei gleichem Volumen, Druck und Temperatur immer die gleiche Anzahl Teilchen enthalten sein muss. Unter Teilchen verstand Avogadro in diesem Falle zweiatomige Moleküle. „Die Dampfdichte liefert uns daher ein Mittel, um das Gewicht von Molekülen verschiedener Substanzen eindeutig zu bestimmen, ob nun atomar oder als Verbindung“, konstatiert Cannizarro in seiner Rede.
Auch der erst 26-jährige Mendelejew sitzt im Saal, als Cannizarro seinen Vorschlag präsentiert. Für ihn ist dieser Vortrag eine Initialzündung. Denn schon seit einigen Jahren beschäftigt ihn die Frage nach einer Klassifikation der mittlerweile rund 60 bekannten Elemente. „Es ist eine der Funktionen der Wissenschaft, die Existenz eines generellen Ordnungsprinzips in der Natur zu entdecken und die Gründe zu finden, die diese Ordnung beherrschen“, schreibt der Chemiker später in einer seiner Schriften. „Die Kathedrale der Wissenschaft benötigt nicht nur Material, sondern auch ein Design, eine Harmonie.“
Mendelejew steht mit dieser Ansicht keineswegs allein: Die Konferenz in Karlsruhe, in deren Folge zahlreiche Atomgewichte korrigiert und vereinheitlicht werden, löst ein wahres Wettrennen aus: Wer findet zuerst ein System, die Ordnung, die die Eigenschaften und das Verhalten der Elemente erklärt?
Nadja Podbregar
Stand: 18.02.2011