Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit, von der symbiotischen Partnerschaft mit einem Virus zu profitieren. Ein Beispiel dafür sind parasitische Wespen, von denen es weltweit mehrere zehntausend Arten gibt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie andere Insekten als lebende „Brutkästen“ für ihren Nachwuchs nutzen.
Viele Wespen legen beispielsweise ihre Eier in Raupen von Schmetterlingen. Nach kurzer Zeit schlüpfen die Wespenlarven und beginnen, sich von den Stoffwechselprodukten und Geweben der Raupe zu ernähren. Dabei fressen sie nicht nur die Raupe von innen heraus auf, sie setzen auch ihr Hormonsystem außer Kraft und verhindern damit, dass diese beginnt sich zu verpuppen. Sind die Wespenlarven dann alt genug, bohren sie sich durch die Haut ihres sterbenden Wirts und verpuppen sich. Soweit so bekannt.
Doch die ganze Geschichte hat einen kleinen Schönheitsfehler: Eigentlich dürften die Wespeneier in den Raupen gar nicht überleben, geschweige denn Larven daraus schlüpfen. Denn das Immunsystem der Raupen ist durchaus auf solche Eindringlinge vorbereitet und müsste die als fremd erkennbaren Eier normalerweise sofort vernichten. Doch genau dies geschieht nicht. Aber warum?
Virus hilft Wespenei
Des Rätsels Lösung sind – wieder einmal – Viren: Die parasitischen Brack- und Schlupfwespen sind im Laufe einer Millionen Jahre alten Entwicklungsgeschichte eine Symbiose mit verschiedenen Erregern aus der Familie der Polydnaviren eingegangen. Statt eine Krankheit auszulösen oder sich explosionsartig in ihrem Wirt zu vermehren, wurden die Viren nun im Laufe der Zeit zu entscheidenden „Komplizen“ der parasitischen Wespen.
„Die Beziehungen sind so eng geworden, dass viele der Erreger in die Keimbahn der Wespen eingedrungen sind und erst während der Eiablage als voll ausgereifte Virenpartikel zum Vorschein kommen“, erklärt Ryan in seinem Buch. Dadurch werden die Viren quasi automatisch zusammen mit den Eiern in die Raupen übertragen. Und einmal dort angekommen, entfalten die Viren nun ihre volle Wirkung:
Als erstes lähmen sie das Immunsystem der Raupe und verhindern damit einen Angriff auf ihren Wirt, die Wespe. Dann entern sie Zellen, die zentrale Stoffwechselfunktionen steuern und verändern deren Genfunktion so, dass der Wespenlarve optimale Wachstumsbedingungen geboten werden. Die Raupe beginnt nun beispielsweise, große Mengen bestimmter Zuckerverbindungen herzustellen, die den Wespenlarven als Nahrung dienen.
Beginn einer langen Partnerschaft
„Es handelt sich um ein einmaliges Beispiel, wo Viren durch Wespen so domestiziert wurden, dass sie genetische Information in den Wirt übertragen, die nur dem Überleben der Wespen dient“, erklärt Beatrice Lanzrein, Professorin für Zellbiologie an der Universität Bern. Gemeinsam mit Kollegen aus Tours in Frankreich enträtselte sie im Jahr 2009 den Ursprung dieser symbiotischen Verbindung – und auch, wie eng die Beziehung beider Partner dabei ist.
Der Vergleich von Viren-Signaturen in stammesgeschichtlich weit voneinander entfernten Brackwespenarten enthüllte, dass die allererste Aufnahme eines Polydnavirus durch eine Wespe schon vor 100 Millionen Jahren stattgefunden haben muss – im Zeitalter der Dinosaurier. Heute liegt das Virus bei vielen parasitischen Wespen nicht einmal mehr als eigener Organismus vor, sondern ist sogar fest in das Genom der Wespen eingebaut. Pünktlich zur Eiablage werden dann die Virengene in Eierstockzellen des Wespenweibchens abgelesen und die Viren erwachen zu neuem Leben.
Für Ryan und die Vertreter der Symbiose-Theorie ist dieses Beispiel ein klarer Beweis dafür, dass die Evolution hier nicht nur am Wirt oder am Virus, sondern eindeutig auf die Symbiose der beiden wirkt. „Es steht wohl außer Frage, dass die Selektion hier auf der Partnerschaftsebene ansetzt, denn die Gene und das Verhalten der Viren erhöhen die Überlebenschancen der Wespen immens“, erklärt Ryan. Er sieht daher in solchen symbiotischen Viren nicht nur einfache Begleiter ihrer Wirte, sondern sogar treibende Kräfte ihrer Evolution.
Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010