Der Norden des heutigen Kolumbiens vor rund 60 Millionen Jahren. Feucht und mollig warm ist es inmitten des gewaltigen tropischen Regenwaldes – erstaunliche 32°C im Jahresdurchschnitt sind normal. Das Zeitalter der Dinosaurier ist seit einiger Zeit vorbei, doch noch immer wimmelt es hier von Giganten in der Tierwelt. Sie finden perfekte Bedingungen vor, um zu überleben und sich prächtig zu entwickeln.
Krokodil im Überlebenskampf
Harmlose Riesenschildkröten gehören genauso dazu, wie urtümliche Krokodile mit ihrem massigen Körper und dem machtigen Gebiss. Unzählige dieser kaltblütigen Panzerechsen liegen am Rande eines Sumpfes träge in der Sonne. Doch der Frieden trügt, das zeigt sich schon bald. Denn es existiert hier noch ein Lebewesen, das von seinen Dimensionen her alle anderen in den Schatten stellt und äußerst gefährlich ist: eine Riesenschlange, so lang wie ein Schulbus und so schwer wie ein Pkw.
Längst hat sie Witterung aufgenommen und wartet reglos darauf, dass ein Opfer in ihre Reichweite kommt. Als sich endlich eines der Krokodile schläfrig nähert, läuft alles wie im Zeitraffer ab. Blitzschnell schießt der gigantische Schlangenkopf vor und packt kräftig zu. Nahezu zeitgleich windet die Schlange ihren Leib ein paar Mal um das überraschte Tier und setzt zum Würgegriff an. Verzweifelt versucht sich das Opfer zu wehren und aus der tödlichen Falle zu entkommen – vergeblich. Am Ende triumphiert die Riesenschlange und verschlingt ihre Beute mit Haut und Haaren.
So lang wie ein Schulbus, so schwer wie ein Pkw
Soweit das Szenario, das Paläontologen und Biologen für das Erdzeitalter des Paläozän vor 65,5 bis 55,8 Millionen Jahren entworfen haben. Die präzisen Vorstellungen von dieser Ära der Erdgeschichte basieren entscheidend auf Fossilien, die ein internationales Wissenschaftlerteam im Jahr 2009 in der so genannten Cerrejon Kohlenmine entdeckt hat. In dem Tagebau, in dem jährlich 33 Millionen Tonnen Kohle gewonnen werden, stießen die Forscher auf versteinerte Überreste, darunter die Wirbel einer rätselhaften Ur-Schlange, die sie auf den Namen Titanoboa cerrejonensis tauften.
Wie die Rekonstruktionen der Wissenschaftler um Jonathan Bloch von der Universität von Florida (UF) und Carlos Jaramillo vom Smithsonian Tropical Research Institute in Panama ergaben, handelt es sich dabei vermutlich um die größte und mächtigste Schlange, die jemals lebte. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze waren es vermutlich rund 14 Meter und sie wog erstaunliche 1,25 Tonnen. Zum Vergleich: Die Titanoboa erreichte damit in etwa die gleiche Länge wie das berühmte T.rex-Skelett „Sue“ im Field Museum in Chicago.
So dick wie eine Liftfass-Säule
Doch damit nicht genug der Superlative: „Der Körper der Schlange war so dick, dass sie sich geradezu durch die Tür quetschen müsste, wenn sie in mein Büro kommen und mich fressen wollte“, so Jason Head, ein Paläontologe der Universität von Toronto, der ebenfalls an der Untersuchung der Fossilien beteiligt war.
„Vor unserer Arbeit hatte man im tropischen Südamerika keinerlei Wirbeltierfossilien aus der Zeit von vor 65 bis 55 Millionen Jahren gefunden“, erklärt Head die Bedeutung der Funde. „Dadurch wussten wir kaum etwas über das Leben in den nördlichen Neotropen. Jetzt haben wir ein Fenster in die Zeit direkt nachdem die Dinosaurier ausgestorben waren und wir können sehen, welche Eigenschaften die Tiere hatten, die sie ersetzten.“
Krokodile als Leibspeise?
Dass die Titanoboa tatsächlich Krokodile fraß, schlossen die Forscher schon früh aufgrund von versteinerten Überresten der Panzerechsen, die sie am Fundplatz der Schlangenfossilien entdeckt hatten. Weitere Indizien für diese Theorie lieferte dann eine Studie aus dem Jahr 2010 in der Fachzeitschrift „Journal of Vertebrate Paleontology“. Darin hatten erneut Forscher der Universität von Florida und vom Smithsonian Tropical Research Institute die Krokodilrelikte näher analysiert und dabei eine Vorstellung von der Größe und dem Aussehen der Cerrejonisuchus improcerus genannten Krokodil-Art gewonnen.
Danach war das Tier um die zwei Meter lang und deshalb eine leichte Beute für die riesige Titanoboa. „Dieses neue Fossil war eindeutig ein Teil der Nahrungskette – sowohl als Räuber wie auch als Beute“, erklärt UF-Paläontologe Bloch. „Riesenschlangen sind heute dafür bekannt, dass sie Krokodile fressen. Und es ist nicht weit hergeholt, wenn man sagt, dass Cerrejonisuchus vermutlich eine häufige Mahlzeit der Titanoboa war. Fossilien dieser beiden Arten werden oft direkt nebeneinander gefunden.“
Dieter Lohmann
Stand: 15.10.2010