Anakonda, Boa, Python: So unterschiedlich die über 70 Arten von Riesenschlangen auch sein mögen, beim Fressen der Beute verhalten sie sich nahezu alle gleich. Das Grundprinzip beschreibt Stephen Secor, Biologe an der Universität von Alabama in Birmingham so: „Während die meisten Raubtiere in der Lage sind, zuerst zu kauen oder ihre Beute zu zerfetzen oder zu zerdrücken, schlucken Riesenschlangen immer das intakte Tier komplett herunter. Den ganzen Job, die Beute klein zu machen, überlassen sie ihrem Magen.“
Schon das Herunterwürgen des Opfers läuft dabei nach streng festgelegten Regeln ab. Zuerst verschwindet der Kopf im Schlangenleib, dann erst folgt der Rest des Körpers. Das hat den Vorteil, dass die erlegte Mahlzeit gut rutscht und sich weder Beine oder Flügel noch Stacheln auf dem Weg in den Magen verhaken können. Dies erklärt zwar, warum das Verschlucken weitgehend störungsfrei funktioniert, aber wie gelangt die große und massige Beute durch das vergleichsweise kleine Maul der Riesenschlangen? Möglich machen dies einige Besonderheiten des Kiefers:
Nadelöhr Maul
„Beim Menschen und den meisten anderen Wirbeltieren verwachsen im Laufe der Embryonalentwicklung die Unterkieferhälften vorne zu einer festen Knochenverbindung. Bei Schlangen wird diese Verbindung nie geschlossen, sondern nur über elastische Bänder gehalten. Außerdem hat jede Unterkieferhälfte ein Gelenk in der Mitte und kann sich so der Form eines Beutetieres anpassen. Und sie ist nicht starr mit dem Schädel verbunden, sondern frei schwingend aufgehängt“, beschreibt Thomas Willke in einem Anakonda-Special der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ einige der wichtigsten morphologischen Anpassungen.
„Zusammen mit den ebenfalls recht flexibel befestigten Oberkieferknochen besitzt das Schlangenmaul so eine unglaubliche Flexibilität. Nach dem Verschlingen einer Riesenbeute muss eine Anakonda mehrfach ‚gähnen‘, damit alle Bestandteile ihres Schädels wieder in die richtige Position rutschen“, so Wilke weiter.
Ein überdimensionaler Fleischklops wird zersetzt
Hat die Beute erst einmal das Nadelöhr Maul passiert, ist das Schwierigste geschafft. Im Magen wartet zunächst eine starke Salzsäurelösung auf den überdimensionalen Fleischklops. Sie wirkt intensiv auf die Nahrung ein und zersetzt sie nach und nach immer weiter. Doch das ist längst nicht der einzige Trick, den Riesenschlangen bei der Verdauung benutzen.
Dies hat der Wissenschaftler Professor Matthias Starck mit seinem Team von der Universität Jena bereits im Jahr 1998 bei Python-Experimenten enthüllt. Die Ergebnisse waren ebenso beeindruckend wie verblüffend. Denn die mit Kaninchen gefütterten Pythons verdauten ihre Nahrung im Eil-Tempo. Möglich wurde dies durch eine enorme Vergrößerung der inneren Organe unmittelbar nach dem Fressen der Beute. Innerhalb kürzester Zeit kam es dabei nach Angaben der Forscher zu einer Verdreifachung des Umfangs beispielsweise von Darm und Niere.
Darmzotten werden aufgepumpt
„Hat das große Fressen begonnen, fließt Lymphe in die Darmzotten. Diese werden wie ein Ballon aufgepumpt, entfalten sich, und der Darm dehnt sich innerhalb von zwei Tagen auf die maximale Größe aus. Die Durchblutung im Schlangendarm steigt; die Python kann besser verdauen. Jede einzelne Darmzelle verändert sich, sodass es nach der Mahlzeit plötzlich mehr Enzyme gibt, die die Nährstoffe in die Zellen transportieren. Außerdem verlängern sich auf den Darmzellen die sogenannten Mikrovilli, die aussehen wie kleine Bürsten und den Speisebrei nach Nährstoffen durchkämmen“, erklären Starck und seine Kollegen die Vorgänge im Schlangenleib. Nur Zähne, Haare und Krallen können dem ganzen Prozedere widerstehen und werden am Ende wieder ausgeschieden.
Ultraschall und Kernspintomographie
Den Geheimnissen der Verdauung auf die Spur gekommen sind die Zoologen mit einigen für die Tierforschung ungewöhnlichen Hilfsmitteln. „Wir durchleuchten die Schlangen mit modernsten medizinischen Geräten wie Ultraschall und Kernspintomographen“, erklärte Starck – heute an der LMU München tätig –damals im Spiegel. „Auf diese Weise können wir den Verdauungsvorgang am lebenden Objekt studieren. Und auch die Schlangen haben etwas von dem Einsatz moderner Technik: Im Gegensatz zu anderen Labortieren müssen sie nicht getötet und seziert werden.“
Dieter Lohmann
Stand: 15.10.2010