Für die Mehrheit der Kosmologen ist die Dunkle Energie – woraus sie auch immer besteht – die plausibelste Erklärung für die beschleunigte Expansion des Universums. Doch es gibt auch sehr viel radikalere Ansichten. Einige Forscher gehen sogar soweit, die Dunkle Energie für eine bloße Illusion zu erklären. Die schnellere Ausdehnung des Kosmos ist demnach nur eine Anomalie unserer Position im All. Oder noch radikaler: nicht die Expansion des Raums beschleunigt sich, sondern die Zeit wird langsamer.
Abweichungen vom Durchschnitt
Der Ausgangspunkt ist die klassische Hubble-Konstante: Der Wert, ermittelt über tausende von fernen Galaxien und Supernovae, der die durchschnittliche Expansionsrate des Weltalls angibt. Für den Kosmologen Christos Tsagas von der Aristoteles Universität in Thessaloniki war das entscheidende Schlüsselwort dabei „durchschnittlich“. Denn betrachtet man ein Diagramm, auf dem die Geschwindigkeit aufgetragen ist, mit der unterschiedlich ferne Galaxien von uns wegstreben, dann gibt es durchaus Abweichungen. Einige bewegen sich schneller von uns weg als der Durchschnitt, andere langsamer.
Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Schwerkraft kann der Expansion lokal durchaus entgegenwirken. So bewegen sich die Milchstraße und die Andromedagalaxie trotz Ausdehnung des Raumes aufeinander zu. Die Bewegung einer Galaxie relativ zu weit entfernten Objekten ist daher immer eine Kombination aus lokalen Effekten und der kosmischen Expansion. Unsere Milchstraße besitzt beispielsweise relativ zum kosmischen Mikrowellen-Hintergrund eine Eigengeschwindigkeit von rund 627 Kilometern pro Sekunde.
Eigenbewegung statt Dunkler Energie
Und genau hier kommt Tsagas‘ Theorie ins Spiel: Seiner Ansicht nach sorgt diese Eigenbewegung dafür, dass sich von uns aus gesehen ferne Galaxien schneller zu entfernen scheinen als sie es tun. Oder anders gesagt: Wir messen zwar eine beschleunigte Expansion, aber diese ist eine Illusion, hervorgerufen durch unsere Eigenbewegung. Eine Dunkle Energie kann es demnach gar nicht geben.
„Der Effekt ist lokal, aber die betroffenen Größenordnungen sind groß genug, um den falschen Eindruck zu erwecken, dass der gesamte Kosmos kürzlich in eine beschleunigte Phase eingetreten ist“, so Tsagas. In Wirklichkeit aber verhalte sich der Kosmos wie in Einsteins ursprünglichen Gleichungen vorhergesagt: Er expandiert zwar, aber diese Ausdehnung verlangsamt sich im Laufe der Zeit.
Tsagas steht damit nicht allein: Schon vor einigen Jahren hat Alexander Kashlinsky vom Observational Cosmology Laboratory der NASA Ähnliches postuliert. Er und seine Kollegen wollen anhand von Messungen festgestellt haben, dass sich eine gewaltige, 2,5 Milliarden Lichtjahre große Region um uns herum schneller bewegt als der Rest des Kosmos. Etwa drei Millionen Kilometer pro Stunde verschiebt sich diese Blase der Raumzeit, auch als „Dark Flow“ bezeichnet, demnach gegenüber unseren kosmischen Nachbarn.
Wird die Zeit langsamer?
Noch exotischer ist eine Hypothese spanischer Forscher um José Senovilla von der Universität des Baskenlandes: Sie mutmaßen, dass nicht der Raum sich schneller ausdehnt, sondern dass sich die Zeit verlangsamt. Dieser Effekt wäre für uns in Alltag und selbst mit genauesten Zeitmessungen nicht erfassbar. Doch über Milliarden Jahre hinweg könnte sich die Zeit ganz allmählich verlangsamen. Das aber führt nach Ansicht der Forscher zu einer verfälschten Messung der Expansion: In Wirklichkeit hat sie sich nicht beschleunigt. Eine Dunkle Energie muss es daher gar nicht geben.
Dieses Szenario klingt auf den ersten Blick unmöglich, gilt die Zeit doch als eine der festen Größen unseres Universums. Doch schon Einstein belegte, dass beispielsweise Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit und auch extreme Schwerkraftbedingungen wie an einem Schwarzen Loch die Zeit für einen Beobachter verlangsamen können. Auf ähnliche Weise, so die Hypothese von Senovilla und seinen Kollegen, könnte sich auch im Verlauf der Entwicklung des Universums die Zeit verändern. In Milliarden von Jahren könnte sie sogar ganz stoppen.
Wirrwarr der Modelle
Tatsächlich wird dies zumindest von einigen anderen Kosmologen durchaus für möglich gehalten. So erklärt Gary Gibbons von der Cambridge University: „Wir glauben, dass die Zeit erst während des Urknalls entstand – und wenn die Zeit entstehen kann, dann kann sie auch wieder verschwinden.“ Allerdings: Die Hypothese von Senovilla und Co gilt ansonsten eher als skurriler Außenseiter im großen Wirrwarr der Erklärungsversuche und Modelle.
Bisher allerdings ist keine der unzähligen Hypothesen zur Dunkeln Energie und der Ursache der beschleunigten Expansion bewiesen. Jede von ihnen kann sich noch als völlig falsch oder aber richtig herausstellen. Der Physiker Cliff Burgess vom Perimeter Institute in Kanada, vergleicht die Ungewissheit der Situation mit einer Menschenmenge, in der jeder sich für Napoleon hält, aber alle anderen für komplett verrückt hält, die das gleiche von sich behaupten. Wer der echte Napoleon ist, muss die Zukunft erst noch zeigen…
Nadja Podbregar
Stand: 02.05.2014