Doch mit dem großen Brand ist die Geschichte von Tiryns noch nicht zu Ende. Denn die Stadt ist das einzige der mykenischen Zentren der Palastzeit, das nach den Zerstörungen um 1200 v. Chr. einen Neuanfang versucht. Anders als an den anderen Schauplätzen der Verwüstung entsteht hier aus den Trümmern etwas Neues. „Am interessantesten ist die Zeit nach der Katastrophe“, sagt der Archäologe Joseph Maran. „Zwischen etwa 1200 und 1050 v. Chr. stellt sich Tiryns gleichsam gegen den Strom der Geschichte, da es expandierte, während die anderen vormaligen Palastzentren schrumpften oder verschwanden.
Pläne aus der Schublade
Jetzt erst wird auch das neu gewonnene Bauland in der nördlichen Unterstadt für architektonische Neuplanungen systematisch genutzt. „Es sieht alles so aus, als hätten Palastbeamte aus der dritten oder vierten Reihe die längst existierenden Pläne aus der Schublade geholt, um sie in die Tat umzusetzen“, sagt Maran. Sie müssen das Wissen gehabt haben und fähig gewesen sein, soziale Strukturen zu steuern, die derlei Vorhaben möglich machten.
Die Siedlung wuchs damals auf geschätzte 25 Hektar Größe an – eine für diese Zeit und diesen Ort sensationelle Größe. Die politischen Hintergründe dieses Größenwachstums liegen allerdings ebenso im Dunkeln wie die Frage der wirtschaftlichen Grundlage und der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die zum Teil womöglich aus der weiteren und näheren Umgebung zugezogen war.
Nach 1200 unternimmt die neue herrschende Schicht sogar einen Versuch, wichtige Areale des vom Feuer zerstörten Palastes in ihrem eigenen Sinne wieder aufzuladen und zu besetzen: Sie beziehen zentrale Symbole der vorherigen religiösen und politischen Ordnung, wie den Thronplatz und einen Altar im Hof, in ihre Neuplanungen ein. Schliemann und der Bauforscher Wilhelm Dörpfeld hatten diese Neubauten zunächst für einen unbedeutenden Tempel aus dem 8. Jahrhundert gehalten. Erst 1998 konnte Joseph Maran nachweisen, dass der in der Ruine des Palasts von Tiryns errichtete Säulenbau ein letztes mykenisches Megaron war. Als Megaron bezeichnet man den zentralen Bau einer fürstlichen Burg, oft bestehend aus nur einem Hauptraum mit Vorraum.
Rückgriff auf alte Symbole
Die neuen Würdenträger und Bauherren von Tiryns legitimierten ihre Macht mit dem Rückgriff auf die Geschichte, durch die Nutzung alter Symbole. Zudem betonten sie, aus den ältesten Familien der Region zu stammen. Sie nahmen also die Vergangenheit für sich in Anspruch, um ihre Position in der Gegenwart zu begründen.
Solange die Bevölkerung einigermaßen homogen ist, funktioniert diese Art der Legitimierung von Macht auch meistens. „Wenn aber Menschen aus anderen Regionen und Kulturen mit je eigener Vergangenheit und eigenem kulturellen Gedächtnis kommen und sich in einem Gemeinwesen ansiedeln, geht die Kohäsion mittels gemeinsamer Erinnerung verloren“, sagt Maran. „Der Bezug auf die Vergangenheit wird stumpf.“
Archäologische Großbaustelle
Damit dies nicht so bleibt, kommen inzwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt nach Tiryns, um das Rätsel dieser Königsburg zu ergründen. Bisher aber wirft jede neue Erkenntnis auch neue Fragen auf. Tiryns wird daher wohl noch lange eine archäologische Großbaustelle bleiben, die Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften zusammenführt, um eine versunkene Kultur als Ganzes zu verstehen.
Auf dem Weg zurück nach Athen kommt man wieder an Mykene vorbei. Es ist nicht mehr ganz das Mykene der Dichter, der mythisch überhöhte Ort, in der Dichtung geschaffen für eine Selbstvergewisserung aus der Vergangenheit. Es ist nun mehr das Mykene der Archäologen, die nicht nur die Pracht sehen, sondern auch den Preis, der dafür gezahlt wurde. Dies rückt die mykenische Kultur ein gutes Stück näher an die Gegenwart heran.
Archäologie weltweit / DAI
Stand: 24.01.2014