Geologie/physische Geographie

Das Rätsel des Nil-Canyons

Wie entstanden die Schluchten vor den Mittelmeer-Flussmündungen?

Oberägypten, nahe der Stadt Assuan. Hier wird seit Anfang der 1960er Jahre am großen Nil-Staudamm gebaut. Das 3.800 Meter lange und 111 Meter hohe Bauwerk soll den Fluss aufstauen und so ein Wasserreservoir für die Landwirtschaft und Industrie in der Wüstenregion schaffen. Beim Durchleuchten des Untergrunds für die Planung der Fundamente stoßen die Geologen und Ingenieure auf Überraschendes: Tief unter dem schlammigen Flussbett des Nils liegt ein tief ins Untergrundgestein eingekerbter Canyon.

Der Assuan-Staudamm: Bei seinem Bau stießen Geologen auf die verschüttete Nil-Schlucht © Hajor / CC-by-sa 3.0

200 Meter weit unter den Meeresspiegel reicht die von Sediment verschüttete Schlucht. Wie aber kann sie dorthin gekommen sein? Normalerweise gräbt sich ein Fluss nur dann so tief ins Gestein ein, wenn er starkes Gefälle hat und das Wasser in seinem Bett schnell dahinströmt. Doch der behäbige Nil fließt hier eher langsam und hat in der flachen Landschaft eigentlich genügend Platz um sich in seinem Bett auszubreiten. Und auch das Gefälle ist von hier bis zu 1.250 Kilometer entfernten Küste nicht gerade steil.

Ein Grand Canyon unter der Nilmündung

Den Ingenieuren des Staudamm-Projekts ist das erstmal ziemlich egal. Sie planen und bauen ihren Damm einfach über dem urzeitlichen Canyon. Einigen Geologen aber lässt das Rätsel um den unterirdischen Nil-Canyon keine Ruhe. Finden sich möglicherweise auch näher an der Küste oder sogar vor der Mündung des Flusses weitere Spuren dieser Schlucht? Die Antwort bringen Sonaruntersuchungen, die wenige Jahre später vor der ägyptischen Küste die Struktur des Meeresbodens analysieren: Tatsächlich stoßen auch sie unter dicken Sedimentschichten auf einen mehr als 2.000 Meter tief eingekerbten, bis weit vor die Nilmündung reichenden Canyon. „Er ist in seiner Größe mindestens vergleichbar mit dem Grand Canyon des Colorado“, erklärt Hsü.

Höhenbild eines submarinen Canyons im westlichen Mittelmeer © AOA Geophysics, Fugro and University of Barcelona

Und auch vor anderen Flussmündungen im Mittelmeer finden Forscher Spuren solcher Schluchten. So liegt auch vor der Rhône-Mündung ein immerhin noch tausend Meter tiefer Canyon. Das Problem dabei: Solche Canyons konnten nur entstanden sein, wenn der Fluss aus größerer Höhe ins Meer mündet – und das passt definitiv nicht zur Theorie von Nesteroff nach der das Mittelmeer vor rund sechs Millionen Jahren anhoben wurde und zu einem flachen Becken mutierte.

Ein ganzes Meer wird abgeschnitten

Hsü postuliert daher ein ganz anderes Szenario: Was wäre, wenn das Mittelmeer damals genauso tief war wie heute, ihm aber einfach nur der Wassernachschub aus dem Atlantik abgeschnitten wurde? Mögliche wäre dies, wenn statt des ganzen Beckens nur die Straße von Gibraltar – das Fluttor des Mittelmeeres, wie Hsü es nennt – angehoben wurde. Die einstige Meerenge wandelte sich dadurch zu einem Damm, der die Verbindung zwischen beiden Meeren unterband.

Dank der hohen Verdunstung hätte es dann nur wenige tausend Jahre gedauert, bis das gesamte, bis zu 2.000 Meter tiefe Becken ausgetrocknet wäre. Die in das Mittelmeer mündenden Flüsse strömten dann nicht mehr in eine seichte Mündungsregion, sondern stürzten die steilen Hänge des leeren Beckens hinab – und gruben sich dabei im Laufe der Zeit tief ein.

Für uns heute klingt das absolut plausibel. In den 1970er Jahren aber – die Plattentektonik hatte sich gerade erst als treibende Kraft der Geologie etabliert – war ein so umwälzendes Ereignis ein völlig neues Konzept. „Wir sind uns bewusst, dass unsere Schlussfolgerungen ziemlich unglaublich klingen, denn keine der heute bekannten Wüstensenken wäre in Größe oder Tiefe eine ausgetrockneten Mittelmeer vergleichbar“, betonen Hsü und seine Kollegen denn auch in ihrem „Nature“-Artikel von 1973. „Aber die unglaubliche Tatsache, dass sich unter dem Mittelmeer diese Salzablagerungen befinden, verlangt nach einer unglaublichen Erklärung.“

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Nadja Podbregar
Stand: 22.03.2013

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Inhalt des Dossiers

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