Bei Asbest kennt man den Effekt schon lange: Die ultradünnen Fasern dringen mit der Atemluft tief in die Lungenbläschen ein und richten dort verheerende Zerstörungen an. Die Folge sind chronische Lungenkrankheiten und auch Lungenkrebs. Mikroskopaufnahmen zeigen, dass die Asbestfasern teilweise wie Speere in den toten Lungenzellen sitzen. Auch Nano-Röhrchen sind lang und extrem dünn – und auch sie können das Lungengewebe in hoher Dosierung schädigen.
Riesen-Lolli für die Zelle
Wie es zu diesem destruktiven Prozess kommt, und warum die Röhrchen die Zellen oft regelrecht aufzuspießen scheinen, haben 2011 Forscher um Huajian Gao von der Brown University in Providence aufgeklärt. Sie gaben in ihrem Experiment Kohlenstoff-Nanoröhrchen oder Gold-Nanodrähte zu Kulturen von Leber- und Brusthöhlenzellen. Mittels Spezialmikroskop verfolgten sie dann, was genau zwischen Zellen und Röhrchen passierte. Es zeigte sich Überraschendes: Egal in welchem Winkel die Röhrchen auf die Zelloberfläche trafen – die Zelle drehte sie immer so hin, dass sie genau senkrecht, runde Spitze voran, auf der Zellmembran standen. Und dann begann die Zelle prompt, das Röhrchen vom Ende her in sich aufzunehmen – mit fatalen Folgen.
„Das ist so, als wenn wir einen Lutscher schlucken wollten, der länger ist als wir selbst: Er würde feststecken“, sagt Gao. Tatsächlich merkt auch die Zelle innerhalb weniger Minuten, dass sie sich offenbar übernommen hat und löst eine Art zelluläres Notfallprogramm aus. Sie gibt Signalmoleküle ab, die die Immunabwehr zu Hilfe rufen. „Aber dann ist es schon zu spät“, sagt der Forscher. Denn einmal begonnen, lässt sich dieser Aufnahmeprozess nicht mehr umkehren – ausspucken geht nicht. Als Folge geht die Zelle letztlich zugrunde, mitsamt des in ihr steckenden Nanoröhrchens.
Rundes Ende täuscht Sensoren
Aber was bringt die Zelle überhaupt dazu, das viel zu große Röhrchen aufnehmen zu wollen? Der Grund ist offenbar die Form der Röhrchen-Enden: Ähnlich wie bei Asbestfasern ähneln sie einer abgerundeten Halbkugel. Sensoren auf der Zelloberfläche sind jedoch darauf programmiert, genau diese Form und Größe zu erkennen, denn sie gleicht denen von membranumhüllten Bläschen, wie sie im Zellmilieu häufiger vorkommen. Bei Kontakt mit dem Ende der Nanoröhrchen, werden die Sensoren daher getäuscht und glauben, nur ein kugeliges, leicht zu verschluckendes Gebilde vor sich zu haben. Dass noch ein langes Röhrchen daran hängt, erkennen sie nicht – und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, gesundheitliche Risiken durch Nanofasern zu verringern. „Wenn das runde Ende des Kohlenstoff-Nanoröhrchens abgeschnitten wird, bleibt das Röhrchen auf der Zellmembran liegen und wird nicht aufgenommen“, erklärt Gaos Kollege Xinghua Shi. Möglicherweise könne man zukünftig Nanopartikel herstellen, die solche irreführenden Strukturen nicht enthielten und so die Zellschäden vermeiden.
Gesundheitsfolgen dennoch umstritten
Sowohl bei diesem Effekt als auch bei anderen Folgen von Nanopartikel-Belastungen ist bisher noch umstritten, ob auch schon niedrige Dosen ausreichen, um unsere Gesundheit zu schädigen. Denn in den meisten Tierversuchen wurden Ratten oder Mäuse so hohen Nanoröhrchen-Dosierungen ausgesetzt, wie sie selbst in Zukunft vermutlich kaum in der Luft vorkommen werden.
Andererseits aber fehlt es noch an Langzeitstudien, die testen, wie sich eine über lange Zeit aufgenommene niedrige Dosis von Nanopartikeln im Körper auswirkt. Viele Forscher vermuten, dass sich solche Spätfolgen – wie bei vielen andere Umweltschadstoffen auch – erst im Laufe der Zeit zeigen werden.
Nadja Podbregar
Stand: 08.03.2013