Stress ist im Reich der Zellen und Moleküle etwas ganz anderes, als wir landläufig darunter verstehen. Denn in der Zelle herrscht dann Stress, wenn ihre Bausteine, darunter auch die DNA, durch aggressive Substanzen angegriffen und verändert werden – konkrete biochemische Prozesse also. Dass psychischer Stress auch auf dieser Ebene Spuren hinterlässt, war lange Zeit unbekannt. Inzwischen aber hat sich das radikal geändert. Denn Zellbiologen stoßen immer häufiger auf enge Verbindungen zwischen dem Stress im Kleinen und im Großen.
Bereits vor einigen Jahren zeigte sich, dass Adrenalin und Cortisol auch auf zellulärer Ebene wirken. Sie fördern Oxidationsschäden an Zellen des Gehirns und sogar an der DNA. In welcher Form psychische Belastungen in der Kindheit am Erbgut Spuren hinterlassen, hat 2011 ein Versuch mit Ratten enthüllt. Rattenbabys benötigen in den ersten Tagen und Wochen intensiven Kontakt zu ihrer Mutter. Die noch blinden und nackten Kleinen werden von ihr geputzt, geleckt und spüren ihre beruhigende Körperwärme. Fehlt dieser Kontakt aber und die Mütter kümmern sich kaum um sie, ist dies für die Jungen echter Stress.
Anhängsel schalten Gene aus
Als Folge steigt nicht nur der Pegel der Stresshormone bei den Rattenbabys an, auch an ihrem Erbgut finden Umbauarbeiten statt, wie Forscher entdeckten. An einige Gene im Hirnareal des Hippocampus lagern sich kleine chemische Anhängsel an, die sogenannten Methylgruppen. Diese Anhängsel blockieren die Zellmaschinerie beim Ablesen dieser Gene und verändern so die Genaktivität in diesen Zellen des Gehirns – und dies dauerhaft, bis in Erwachsenenalter der Ratten hinein.
Welche konkreten Auswirkungen diese epigenetischen Veränderungen haben, stellten die Wissenschaftler in verschiedenen Verhaltenstests fest: „Diese Ratten sind weniger abenteuerlustig und wehren sich in unangenehmen Situationen weniger als ihre in der Kindheit besser versorgten Artgenossen“, berichten sie. Wurden die Tiere in einen Wasserbehälter geworfen, versuchten sie weniger intensiv und oft, den Rand zu erklimmen, sie gaben stattdessen einfach auf.
Gen-Blockaden auch bei uns
„Diese Ergebnisse sind sehr wahrscheinlich auch auf den Menschen übertragbar“, sagt Elizabeth Blackburn. Die gleichen Gene, die bei den Rattenbabys von der Methylierung betroffen waren, gibt es auch in unserem Gehirn. Und sie werden offenbar ebenfalls durch frühkindlichen Stress blockiert, wie eine Studie an Selbstmordopfern gezeigt hat. Nach dieser wiesen diejenigen, die in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht hatten, ein ähnliches Muster methylierter Gene im Hippocampus auf wie die vernachlässigten Rattenbabys. Bei Selbstmordopfern, die eine normale Kindheit verlebten, fehlten diese Anlagerungen.
Es gibt sogar erste Hinweise darauf, dass sich Stress vererben kann, möglicherweise über genau solche Erbgut-Anlagerungen. Zeugen Rattenmännchen, die in ihrer Jugend erhöhtem Stress ausgesetzt werden, Nachwuchs, ist dieser weitaus stressanfälliger als normal. „Der Mechanismus dafür ist noch unklar“, erklärt Blackburn. Es könne aber durchaus sein, dass stressbedingte epigenetische Marker im Erbgut des Vaters über die Spermien an die Kinder weitergegeben wurden.
Nadja Podbregar
Stand: 25.01.2013