England, wir schreiben das Jahr 1798. Aus der britischen Kolonie Neuholland – dem heutigen Australien – ist mal wieder ein Schiff eingetroffen. Nicht unbedingt ungewöhnlich, denn es herrscht reger Verkehr zwischen dem Mutterland England und den noch relativ neuen Überseegebieten. Sträflinge und Siedler strömen in das Land „down under“, im Gegenzug kommen Edelhölzer und andere Naturprodukte, aber auch exotische Geschöpfe nach England. Längst ist es unter Wissenschaftler kein Geheimnis mehr, dass in Australien eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt existiert.
Dieses Mal jedoch hat das Schiff eine Fracht an Bord, die sich später als ganz besondere wissenschaftliche Sensation entpuppen wird. Es handelt sich um die Überreste eines Tieres, das im heutigen australischen Bundesstaats New South Wales neu entdeckt wurde – angeblich. Doch es scheint Skepsis angebracht, denn das Lebewesen hat ein groteskes Aussehen: Entenschnabel, Biberschwanz, Säugetierfell. Jeder, der es zu Gesicht bekommt, tippt sofort auf eine Fälschung. Das liegt zum Teil daran, dass das Tier nicht lebend in Europa eingetroffen ist, sondern nur sein Balg, eine abgezogene Haut mit Haaren und Körperanhängen. Dazu gibt es ein paar einfache Skizzen, die es in seinem Lebensraum zeigen.
Echt oder „fake“?
Auch der Forscher George Shaw aus der Abteilung für Naturgeschichte im Britischen Museum in London stutzt beim Anblick des Balges. Er beschäftigte sich bereits Jahren mit der Tierwelt Australiens und ist, was ungewöhnliche Lebewesen betrifft, einiges gewohnt. Doch dieses hier fällt völlig aus dem Rahmen. Auch er hält es deshalb erst einmal nicht für eine neue Art, sondern für ein von findigen Tierpräparatoren zusammengebasteltes Kunstwesen.
Erst nach eingehender Prüfung ändert er seine Meinung und macht sich 1799 an die wissenschaftliche Beschreibung der neuen Art. Nach einigem Hin und Her unter den Tiersystematikern erhält sie schließlich den Namen Schnabeltier oder Ornithorhynchus anatinus. Weitere Schnabeltierrelikte, die mit der Zeit in England eintreffen, stützen später Shaws Einschätzung: Das merkwürdige Ding aus einer anderen Welt ist echt.
Die Fachwelt zeigt sich begeistert von dem bisher unbekannten Erdbewohner. Forscher und andere Naturinteressierte stellen aber auch die erstaunlichsten Theorien über seine Stellung im Tierreich und über seine Entstehung auf. Das Thema Evolution spielt dabei aber keine Rolle, dafür ist die Zeit noch nicht reif. Charles Darwin lebt noch nicht, seine Thesen zur Evolution sowie sein Hauptwerk „On the Origin of Species“ (Die Entstehung der Arten) erscheinen erst knapp 60 Jahre später.
Diskussionen ohne Ende
Manche halten das Schnabeltier deshalb für eine „verrückte Laune der Natur“, andere für das Resultat eines „promiskuitiven Verkehrs der unterschiedlichen Tiergeschlechter“. Hand und Fuß haben alle diese Spekulationen nicht, denn dazu weiß man zunächst viel zu wenig über das australische Tier, über sein Aussehen und seine Lebensgewohnheiten. Nichtsdestotrotz wird in den nächsten Jahrzehnten auch über Fragen wie „Sind Schnabeltiere Säugetiere oder Reptilien?“ und „Legen sie Eier oder gebären sie lebende Junge?“ ausgiebig und heftig gestritten – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg.
Der deutsche Zoologe und Schriftsteller Alfred Brehm fasst in seinem 1883 erschienenen Thierleben das angebliche Wissen über die Schnabeltiere so zusammen: „Endlich gelang es dem unermüdlichen Forscher [gemeint ist der Zoologe George Bennett, der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrfach Australien besuchte], einen Bau mit drei Jungen zu entdecken, welche etwa 5 Centim. lang waren. Nirgends fand man etwas auf, was auf die Vermuthung hätte führen können, daß die Jungen aus Eiern gekommen, und die Eier von den Alten weggetragen worden wären. Man konnte nicht mehr im Zweifel sein, daß das Schnabelthier lebendige Jungen gebiert. Bennett glaubt nicht, daß die Eingebornen die Mutter jemals säugend gesehen, und entschuldigt sie deshalb wegen ihrer lügenhaften Erzählung hinsichtlich des Eierlegens.“
Doch Bennet und damit auch Brehm hatten sich geirrt – und zwar völlig. Das weiß man heute natürlich längst.
Dieter Lohmann
Stand: 30.09.2011