Die Europäische Weltraumagentur ESA schätzt, dass sich durch den Abschuss des chineischen Wettersatelliten im Jahr 2007 das Trefferrisiko für ihren Umweltsatelliten Envisat um knapp ein Drittel erhöht hat. Zusammen mit den Trümmern der russisch-amerikanischen Satellitenkollision von 2009 ist die Anzahl der potenziell gefährlichen Teilchen sogar um 60 Prozent größer geworden. Der mit Gesamtkosten von rund 2,3 Milliarden Euro teuerste Satellit der ESA kreist nur knapp unterhalb der Bahnen beider Ereignisse, in rund 790 Kilometern Höhe.
Zehn Mal im Jahr meldet inzwischen das Kollisionswarnsystem der ESA eine hochkritische Situation, basierend auf Radardaten und komplexen Bahnberechnungen für die größeren Schrottteile. Mehrfach schon musste das acht Tonnen schwere „fliegende Auge“, das rund 2.000 Projekte weltweit mit Erdbeobachtungsdaten versorgt, Ausweichmanöver fliegen. Jedes dieser Manöver jedoch kostet Treibstoff – und damit auch Lebenszeit für den Satelliten. (Video: Envisat-Kontrollzentrum Darmstadt)
Raketenteil auf Kollisionskurs
Richtig brenzlig wurde es für Envisat zuletzt im Januar 2010: Das Überwachungssystem meldete eine abgestoßene chinesische Raketenoberstufe auf möglichem Kollisionskurs. Das 3,8 Tonnen schwere Raketenbauteil schien sich direkt auf den ESA-Satelliten zuzubewegen, genaueres jedoch konnte das System nicht feststellen.
Jetzt war die Radaranlage TIRA im deutschen Wachtberg bei Bonn gefragt. Denn hier steht die zurzeit leistungsfähigste „Spürnase“ für Weltraumschrott, betrieben vom Fraunhofer Institut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik: Zusammengeschaltet mit dem benachbarten Radioteleskop Effelsberg des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie kann der 240 Tonnen schwere und 34 Meter große Parabolspiegel des Großradars noch Teilchen von einem Zentimeter Größe orten und ihre Bahn metergenau berechnen. TIRA-Leiter Holger Leushacke und sein Team machten sich sofort an die Arbeit, um die genaue Flugbahn der chinesischen Oberstufe zu berechnen.
Ausweichen auf Kosten der Lebenszeit
Wenig später war klar: Das Schrottteil wird Envisat in weniger als 50 Metern passieren, möglicherweise sogar nur in 15 Metern – zu nah, um sicher gehen zu können, dass eine Kollision nicht stattfindet. Die Envisat-Verantwortlichen entschieden sich deshalb für ein Ausweichmanöver. „Wenn man sich die Dimensionen von Envisat anschaut, dann ist 15 Meter nicht sehr viel“, erklärt ESA-Experte Heiner Klinkrad in 3sat. „Das heißt, es war bei weitem nicht ausreichend, um ohne Manöver das Ereignis an uns vorüber ziehen zu lassen.“ 400 Gramm Treibstoff verbrauchte das rettende Manöver und kostete den milliardenteuren Umweltsatelliten damit einen Monat seiner maximal 15jährigen Lebenszeit.
Nadja Podbregar
Stand: 03.09.2010