Noch vor gut zehn Jahren schienen die Verhältnisse bezüglich der Flügelentwicklung bei Insekten eindeutig: die Seitenlappen-Theorie galt als etabliert, mit alternativen Hypothesen, darunter auch die, dass Flügel sich aus Kiemenanhängen entwickelt haben könnten, beschäftigte sich allenfalls eine kleine Minderheit. Doch Anfang der 90er Jahre geriet das ganze bisherige Gedankengebäude in Wanken – Ursache waren die revolutionären Ergebnisse von Jarmila Kukalova-Peck.
Die Paläontologin der Carleton Universität im kanadischen Ottawa hatte sich bereits seit Jahren mit der Entwicklungsgeschichte von Insekten und Krebstieren beschäftigt. Ihr besonderes Interesse galt dabei vor allem den Beinen beider Tiergruppen. Mithilfe von anatomischen und später auch genetischen Nachweismethoden gelang es ihr nachzuweisen, dass nicht nur die Beine von Krebstieren im Prinzip zweistrahlig angelegt sind, sondern dass dies auch für Insekten gilt. Damit widerlegte sie nicht nur alle bisherigen Grundbaupläne, sie bereitete damit auch einer Renaissance der Kiemen-Theorie den Weg.
Bei den Eintagsfliegen und einigen anderen Insektengruppen atmen die flügellosen wasserlebenden Larven mit beweglichen lappigen oder fächerigen Kiemen, gehen aber als erwachsene flugfähige Tiere zur Tracheenatmung über. Die Kiemenanhänge werden daher bei den Adulten nicht mehr gebraucht und werden reduziert. Was spräche also dagegen, dass frühe Insekten diese Anhänge vielleicht auch besaßen, sie als Erwachsene einfach behielten und sie für die Fortbewegung nutzten? Genau von dieser Vorstellung geht die „Kiemen-Theorie“ aus. Die lappigen, beweglichen und zunächst noch kleinen Anhänge waren zwar zum Gleiten eher ungeeignet, dafür könnten sie aber, so die Hypothese, mit schlagenden Bewegungen und unter Umständen vom Wind unterstützt eine Flucht durchaus beschleunigt haben.
Größtes Manko dieser Theorie war bisher allerdings immer, dass es keine Anzeichen dafür gab, dass Insekten auch schon vor 300 Millionen Jahren ähnliche Kiemenanhänge wie die der Eintagsfliegen besaßen. Sie galten immer als „eigene“ Anpassung der Eintagsfliegen und verwandter Formen. Doch Kukalova-Peck’s Entdeckung eines grundsätzlich zweistrahligen Bauplans der Insektenbeine brachte den Durchbruch: Wenn ein zweiter Ast oder Anhang im Prinzip zur Grundausstattung der Insekten gehört, sind auch die zu Flügeln umgewandelten Kiemen keine „Neuerfindung“. Stattdessen stellen sie nur eine Veränderung und Anpassung bereits angelegter Strukturen dar und sind damit evolutionsbiologisch gesehen erheblich „billiger“ und wahrscheinlicher als komplett neue entwickelte Strukturen.
Im Gegensatz zur Seitenlappen-Theorie umgeht die Kiemen-Variante auch das Problem eines nachträglichen Umbaus von starren unbeweglichen Seitenrudern zu beweglichen, von Adern und Nerven durchzogenen echten Flügeln: Die Kiemen sind von vornherein durchblutet und durch Nerven und Muskeln steuerbar. Inzwischen hat sich das „Kiemen-Szenario“ als das wahrscheinlichere durchgesetzt. Kukalova-Pecks Kommentar dazu: „Ich hoffe, dass ich die alte Theorie erfolgreich umgebracht habe.“
Stand: 12.03.2001