Mit insgesamt sechs Laboratorien und mehr als 30 „Racks“ – Stellplätzen für Experimenteinheiten oder andere Nutzlasten – haben Wissenschaftler an Bord der ISS mehr Forschungsmöglichkeiten im Orbit als je zuvor. Dennoch ist der Erfolg und Nutzen der Station nicht unumstritten.
Für die beteiligten Organisationen ist klar: Die Experimente in luftiger Höhe werden einen „Quantensprung der Forschung und Entwicklung“ bringen, auf der ISS gewonnene Erkenntnisse geben neue Impulse auch für die Technologie, Wissenschaft und Wirtschaft auf der Erde. Kritiker sehen dies freilich etwas anders, nach ihrer Ansicht stehen Aufwand und Erwartungen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Ergebnissen. Schließlich habe man ähnliches auch für die Experimente an Bord der russischen Raumstation Mir prophezeit, herausgekommen sei dabei allerdings nicht sehr viel Bahnbrechendes.
Ob Kritik oder „schöne neue Welten“ – die ISS wird gebaut und die Ergebnisse müssen nun zeigen, ob die Station die an sie geknüpften Erwartungen erfüllen kann. Wie sehen die Erwartungen nun im Einzelnen aus?
Erdbeobachtung
Die Erde im Blick – mit einer Umlaufbahn, bei der mehr als 75 Prozent der Erdoberfläche und der Lebensraum von 95 Prozent der Erdbevölkerung überflogen wird, kein Problem für die ISS. Nicht zuletzt deshalb versprechen sich auch die Geowissenschaftler, Klimatologen und Ökologen neue Erkenntnisse vom „Fenster auf die Welt“. Dazu könnten unter anderem Fortschritte in der Vorhersage atmosphärischer und klimatischer Veränderungen gehören. Aber auch die Langzeitbeobachtung von Vegetationsentwicklung, Landnutzung oder Wasserqualität wären möglich. Ob all dies allerdings nicht auch ebenso gut durch unbemannte Forschungssatelliten abgedeckt werden könnte, sei dahingestellt…
Technologie
Abgesehen von den Forschungsmöglichkeiten innerhalb der ISS ist auch die Weltraumstation selbst ein einziges großes Experiment. Allein die Entwicklung von Bauteilen, die möglichst klein und leicht beim Transport in den Orbit sind, aber unter Weltraumbedingungen ein Maximum an Raum und Sicherheit bieten, erfordert neue Methoden und Technologien. Ähnliches gilt für automatische Andock- und Shuttlesysteme, ferngesteuerte Greifarme und Computer- und Kommunikationssysteme.
Der Zwang, die in der Station vorhandenen knappen Ressourcen an Luft, Wasser oder Treibstoff möglichst effektiv zu nutzen, bringt es mit sich, dass kontinuierlich daran gearbeitet wird, die bisherigen Systeme zur Heizung- oder Kühlung, zur Lebenserhaltung oder zum Brauchwasserrecycling immer weiter zu optimieren. Die daraus resultierenden Weiterentwicklungen könnten, so betonen die Bauherren der ISS immer wieder, auch Impulse für eine nachhaltigere Ressourcennutzung auf der Erde geben. Ein gerne zitiertes Beispiel: Durch die Entwicklung eines nur zwei Prozent effektiveren Heizsystems für die ISS und seine folgende Anwendung auf der Erde könnten allein in den USA mehr als acht Milliarden Dollar pro Jahr eingespart werden.
Astronomie
Viele Phänomene der Planeten, Sternen und Galaxien lassen sich von der Erdoberfläche nicht beobachten, da die darüberzwischen liegenden gut 80 Kilometer Atmosphäre wie ein filter wirken. Eine ungehinderte Sicht ermöglichen daher nur weltraumgestützte Beobachtungs instrumente und Raumsonden. Mit Instrumenten wie dem Hubble-Weltraumteleskop oder der Sonde SOHO geschieht dies allerdings bereits – unter erheblich niedrigerem Aufwand.
Im Gegensatz dazu könnten astronomische Instrumente auf der ISS dafür ohne Probleme oder aufwendige Extramissionen regelmäßig gewartet oder ausgetauscht werden. Selbst besonders große Geräte hätten an den stabilen Gerüststrukturen der Station Platz. Mit ihnen könnten erstmals auch langfristige Analysen und Probenentnahmen mit ausreichend großen Kollektoren ermöglichen.
Medizin
Geradezu „Blühende Landschaften“ malen die ISS-Verantwortlichen für die medizinische Forschung. Von den an Bord durchgeführten biomedizinischen Versuchen erhoffen sich die Mediziner vor allem Aufschluß über die Faktoren, die die Entstehung und den Verlauf von Herz-Kreislauferkrankungen, Osteoporose, hormonellen Störungen und Störungen des Immunsystems beeinflussen. Neue Erkenntnisse in diesem Bereich könnten wirksamere Vorbeugungs- und Therapiemethoden nach sich ziehen. Aufbauen sollen diese Experimente auf den bereits an Bord des Spaceshuttle durchgeführten Versuchsreihen.
Ein weiterer Schwerpunkt der biomedizinischen Forschung werden Experimente zu Proteinwachstum und Zellkulturen sein. Unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit wachsen Proteinkristalle besonders groß und regelmäßig. Ihre Analyse könnte das bisherige Wissen über Struktur und Funktion bestimmter biologisch wirksamer Eiweiße erweitern und – auf lange Sicht – die Entwicklung neuer Medikamente und Methoden der Arzneimittelentwicklung ermöglichen. Zellen und Gewebe in künstlichen Kulturmedien zu züchten – das versuchen Forscher bereits seit langem. Doch bisher sind die Erfolge bescheiden.
Gerade komplexere Organe und Gewebe lassen sich bisher gar nicht oder nur für eine begrenzte Zeit außerhalb des menschlichen Körpers halten. Um so größer die Erwartungen, die sich nun an die Weltraumlabors der ISS knüpfen. In den Bioreaktoren der Station könnten an in-vitro gezüchteten Tumorzellen neue Bestrahlungs- und Chemotherapiemethoden getestet werden und vielleicht sogar ein Weg zur Heilung der Diabetes gefunden werden. Doch ähnlich wie bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind die geweckten Hoffnungen zwar groß, aber die Zeiträume, bis Ergebnisse umgesetzt und angewandt werden, noch größer. An welchen Experimenten und Versuchschwerpunkten die ISS-Besatzung in den sechs Labors der fertigen Station konkret arbeiten wird, ist bisher ohnehin noch nicht vollständig festgelegt.
Materialforschung
Die ISS bietet Materialforschern und -physikern geradezu „überirdische“ Möglichkeiten, denn nur hier können sie das Verhalten fester und flüssiger Materie unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit untersuchen. Während auf der Erde viele fundamentale Prozesse durch die Schwerkraft maskiert oder beeinflusst werden, lassen sie sich im All quasi isoliert beobachten.
Aus den Ergebnissen dieser Grundlagenforschung könnten, so hoffen die Forscher, sowohl völlig neue Materialien als auch Verbesserungen für die Produktion und Zusammensetzung bereits eingesetzter Werkstoffe entwickelt werden. Die Erwartungen konzentrieren sich hier vor allem auf Materialien für die Kommunikationelektronik wie optische Speicher und – Leitungssysteme, aber auch auf künstliche Knochen für die Medizin.
Stand: 27.03.2001