In der Frühbronzezeit war der Bau von großen Einbäumen ein Unternehmen, das einen großen Teil der Kommune über einen längeren Zeitraum band und entsprechende soziale und ökonomische Strukturen voraussetzte. Seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit (circa 2100 v. Chr.) wechselte die Bautradition und -konstruktion der Schiffe, was zeitlich in die Periode des größten Umbruchs der minoischen Kultur fällt: Neue Machtzentren mit Herrschaftsresidenzen (Palästen) entstanden, Siedlungen wurden ausgebaut, der Handel erweiterte sich und weitreichende Kontakte wurden geknüpft.
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Gesellschaftlicher Umbruch
Für diesen gesellschaftlichen Umbruch hat man freie Arbeitskräfte benötigt. Hinter den Veränderungen in der Bootskonstruktion, nämlich der Abwendung vom riesigen Einbaum und der Hinwendung zum kleineren Plankenschiff, stand neben gesellschaftlichen und ökologischen Kräften eine massive ökonomische Notwendigkeit. Die neuen Boote in mittelminoischer Zeit konnten von sehr kleinen Gruppen in überschaubarer Zeit gebaut werden. Die Boote waren kleiner, der Materialeinsatz geringer und die Werkzeuge (Bronze) besser. Es konnten mehr Boote in kürzerer Zeit hergestellt werden, sodass einer größeren Personengruppe der Weg zu Fischfang und Handel offen stand.
Bestimmte also vorher der Baumstamm die Größe des Bootes, wurden die Minoer mit der neuen Bauweise unabhängig von den Dimensionen des Baumaterials. Kielhölzer und Planken konnten verlängert werden. Die Größe der Schiffe richtete sich nun nach den Erfordernissen und der Handhabung und nicht mehr nach der Größe des Bauholzes. Nun konnten Hölzer kleinerer Bäume verarbeitet werden. Damit wurden neue Ressourcen in doppelter Hinsicht erschlossen: Die Anzahl brauchbarer Holzstämme und die Auswahl der Holzarten erweiterte sich beträchtlich. Außerdem konnten gut erhaltene Bauteile beim Abwracken älterer Boote wiederverwendet werden. Ohne diese Neuerungen hätte die rasante wirtschaftliche Entwicklung seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit niemals stattfinden können.
Ein Boot mit „geschnäbelten“ Enden
Siegeldarstellungen aus dieser Periode bezeugen die Entwicklung eines neuen Bootstyps mit „geschnäbelten“ Enden. Neu waren der kürzere und bauchigere Rumpf, ein Mast und Ruder. Der Kiel wurde manchmal gerade, leicht gebogen bis halbrund dargestellt. Auf den ersten Blick mag man annehmen, dass die stark gebogene Kiellinie durch die ovale Form der Siegelflächen bedingt war. Die Untersuchungen von Thomas Guttandin haben allerdings gezeigt, dass die Schiffe trotz dieses Miniaturformats sehr genau wiedergegeben wurden, da bei Booten mit gerundetem Kiel der Bug soweit aufgerichtet war, dass er nicht mehr unter die Wasserlinie eintauchte.
Wie müssen wir uns diese neuen Schiffe vorstellen, die auf den winzigen Siegeln mit eigentümlichen Elementen an den Bootsenden dargestellt wurden? Und auch hier wieder die Frage: Wo befanden sich Bug und Heck?
Boote über 15 Meter lang
Einen Hinweis gibt die Heckfinne der früheren Kykladenboote, die in die Konstruktion integriert wurde, sodass wir hier Bug und Heck leicht unterscheiden können. Die Länge der Boote lässt sich aus der Anzahl der dargestellten Ruder errechnen. Der Abstand zwischen zwei Ruderern, die hintereinander sitzen, ist durch ihre Körpergröße und Ergonomie bestimmt. Für Männer mit einer durchschnittlichen Größe von 1,65 Meter ergibt sich ein Abstand von 0,9 Meter. So variieren die Bootslängen zwischen 7,6 bis 15,6 Meter.
Die Rümpfe waren in der späten Früh- und Mittelbronzezeit durch ihre schmale Bauweise wenig seitenstabil und konnten nur eine leichte Segeleinrichtung tragen. Vorteilhaft war der relativ große Tiefgang der schlanken Rümpfe – dies wirkte wesentlich dem Abdriften der Schiffe entgegen.
In ihrer weiteren Entwicklung wurden die Schiffsrümpfe fülliger und waren geeignet, größere Segelflächen zu tragen. Nun hat man versucht, das verstärkte Abdriften durch den Einsatz doppelter Steuerruder auszugleichen. Letztere sind auf Siegeldarstellungen dieser Periode belegt.
Thomas Guttandin, Diamantis Panagiotopoulos und Gerhard Plath / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 12.10.2011