Sie wurden nahezu völlig ausgemerzt, aber einige haben doch „überlebt“. In den Hochsicherheitstrakten einiger weniger Forschungslabore der Welt, etwa den Centers for Disease Control in Atlanta, lagern die letzten verbliebenen Pockenviren. Noch immer. Denn eigentlich sollten auch diese letzten Erreger Ende Juli 1999 vernichtet werden. Die Pocken, die einzige wirklich ausgerottete Infektionskrankheit, sollte endgültig aus der Geschichte der Menschheit getilgt werden. Doch dazu kam es nicht. Aufgrund weiteren „Forschungsbedarfes“ verblieben die Pockenviren erst einmal in den Sicherheitslabors.
Aber warum? Sollten wir nicht froh sein, eine Krankheit, die im 18. Jahrhundert schätzungsweise 400.000 Todesopfer allein in Europa forderte, endgültig los zu sein? Nach erfolgreicher Impfkampagne galten die Pocken, die ausser dem Menschen keinen weiteren Wirt besitzen, 1977 als ausgerottet. Dieser große Sieg der Menschheit über eine der ansteckendsten Infektionskrankheiten hätte mit der Vernichtung der letzten Erreger einen Höhepunkt erreicht.
Als Gründe für weitere Forschungen am Variola-Virus wurde unter anderem angeführt, wichtige Erkenntnisse für den Kampf gegen ähnliche Erreger erhalten zu können. Russische Wissenschaftler wollen Untersuchungen an den Viren nicht aufgeben, da sie eine Gefahr von Pockenviren befürchten, die im sibirischen Eis in Leichen von Pockenopfern überlebt haben könnten. Die USA befürchtet hingegen ganz andere Gründe für das Interesse der Russen an dem Pocken-Erreger: Biologische Waffen.
Schon weitaus früher wurden Krankheitserreger als Waffen eingesetzt. 1346 etwa belagerten die Tartaren vergeblich die Stadt Kaffa. Zunächst ohne Erfolg. Aber schließlich kam ein findiger Kopf auf die Idee, ein paar Pestleichen in die Stadt zu katapultieren, um dort eine Epidemie auszulösen. Der Plan ging zwar zunächst auf, allerdings breitete sich die Epidemie auch rasch auf die Eroberer aus. Ein weiterer historischer Einsatz biologischer Waffen fand im 18. Jahrhundert statt. Ein englischer Offizier löste in Nordamerika eine Epidemie unter den Indianern aus, indem er mit Blattern verseuchte Decken scheinbar großherzig unter den Bewohnern des Stammes verteilte.
In der heutigen Zeit eignen sich gerade die Pocken gut für eine solche Art der Kriegführung. Da es weltweit keine Impfpflicht mehr gibt und demnach auch niemand mehr Pocken-Imfstoff herstellt, wären die Menschen einem Anschlag schutzlos ausgeliefert. Durch Tröpfcheninfektion könnte sich nahezu jeder rasch infizieren, jeder dritte Erkrankte würde sterben. Selbst ein sofort ins Leben gerufenes Sofortprogramm könnte frühestens in drei Jahren genügend Sera bereitstellen, um etwa alle Bürger der USA zu impfen. In dieser Zeit könnte sich das Pocken-Virus schon längst auf die ganze Welt ausbreiten.
Solche Horrorszenarien vor Augen haben die USA das Budget für die Überwachung seltener Epidemien um 22 Prozent auf 86 Millionen US-Dollar heraufgesetzt, zusätzlich sollen allein 30 Millionen Dollar in die Impfforschung investiert werden.
Zwar existiert seit 1972 ein Abkommen, dass Entwicklung, Herstellung, Lagerung und Erwerb biologischer Waffen verbietet, aber offiziell dürfen chemische Waffen auch nicht eingesetzt werden. Dennoch forderte der Anschlag der Aum-Sekte mit dem Nervengift Sarin 1995 in Tokyo zahlreiche Todesopfer. Hätte dieser Angriff mit biologischen Waffen stattgefunden, die Folgen wären vermutlich weitaus verheerender ausgefallen.
Die Befürchtungen, Russland arbeite an einer biologischen Waffe wurden durch den 1992 in die USA übergelaufenen Wissenschaftler Ken Alibek untermauert. Alibek leitete selbst in Russland ein Projekt, in dem das Genom des Pockenvirus verändert wurde, um es als Waffe einsetzten zu können. Unter anderem wird dabei die Lebensdauer des Erregers in der Luft verlängert und der Schutz vor UV-Strahlung erhöht. Weitere Berichte, denen zufolge Dutzende Tonnen des Virus in Libyen und Nordkorea lagern, verschärfen die Angst vor einer neuartigen Bedrohung weiter.
Das Kapitel der Pockenerkrankungen scheint also noch nicht ganz abgeschlossen zu sein.
Stand: 15.06.2000