Laut Forschung sind wir näher an Herzschrittmacher-Hemden, Freisprech-Autogurten und Batterie-Textilien als je zuvor. Aber die Industrie sträubt sich noch.
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Reißverschlüsse, Materialien mit Lotuseffekt, auf Bionik basierende Funktionswäsche – Innovationen aus der Textilforschung wie bügelfreie Hemden mit Kunststoffharzbeschichtung kamen früher oder später immer in den Handel, nämlich dann, wenn sie eine gewisse technische Perfektion und damit Marktreife erreicht hatten. Nun steht die Mode- und Textilindustrie, angetrieben von der Digitalisierung und dem Aufstieg der Industrie 4.0, vor einer weiteren innovativen Revolution. Mit den spannenden Ideen und wissenschaftlichen Durchbrüchen der letzten Zeit ließen sich ganze Bücher füllen (dieses PDF gibt eine aufschlussreiche Übersicht), aber der erwartete Umschwung lässt immer noch auf sich warten. Wie vielversprechend sind intelligente Textilien und wo liegen die Hürden für ihre Verwirklichung?
Der erste Nadelstich ist getan …
Die stärksten Impulse des Fortschritts kommen von Designern, aber auch von wissenschaftlichen Instituten und IT-Konzernen. Da sich vor allem jüngere, aktive Menschen, aber auch die ältere, durch Krankheiten betroffene Generation für intelligente Performance-Kleidung interessiert, richtet sich auch die aktuelle Anwendungsforschung auf diese Zielgruppen aus. So sind für die Medizintechnik bereits textile Sensoren für die Pulsmessung, selbstauflösende Materialien zur Wundbehandlung und elektrisch aufladbare Wearables für die Schmerztherapie entstanden. Deutschland ist in Sachen „smart textiles“ seit einiger Zeit Weltmarktführer; 2017 wurden laut dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) 270 Millionen Euro an Innovationsaufwendungen in die Branche investiert. Textilforschungsinstitute (allen voran Thüringen-Vogtland) sowie Universitäten und spezielle Forschungseinrichtungen wie die Fraunhofer-Gesellschaft erweisen sich als die Pioniere des Fachs.
Experten wie Virginia F. Bodmer-Altura (Verfasserin des Branchen-Newsletters „TextileFuture“) gehen deshalb davon aus, dass sich intelligente Textilien innerhalb der kommenden zehn Jahre zu einer Selbstverständlichkeit entwickeln werden. Sich aktiv engagierende Großunternehmen wie Levi Strauss und Google sagen dem Markt ebenfalls enorme Wachstums- und somit Umsatzchancen voraus. Aus diesem Blickwinkel sind die Anwendungsbereiche, die sich bisher herauskristallisiert haben, nur als Vorboten einer bevorstehenden Werkstoffrevolution zu betrachten, die auch in andere Bereiche wie Automobile, Architektur und Bau Einzug halten wird.
… aber der Knoten ist noch nicht geplatzt
Doch wie kommt es dann, dass davon in der freien Wirtschaft und Industrie bisher kaum etwas zu spüren ist? Wie steht es beispielsweise mit den innovativen Leuchtstoffen, von denen bereits vor einiger Zeit die Rede war? Inzwischen wurde bei zuvor kritischen Aspekten wie der adäquaten Energieversorgung und verschleißlosen Waschbarkeit eine annähernde Perfektion erreicht und die illuminierten Garne finden als Prototypen in Warnwesten, extravaganten Fashion-Stücken und signalgebender Berufskleidung für die Polizei Anwendung. Doch große Teile der Industrie sind noch immer skeptisch, was die Etablierung von Kooperationsprojekten für die praxisnahe Forschung erschwert. Um die mangelnde Investitionsbereitschaft der Unternehmen zu steigern, muss deshalb ein technischer Effizienzzuwachs erreicht werden, der mit leichteren Stoffen, effektiver Miniaturisierung und einer wirtschaftlich erschwinglichen Konzeptualisierung und Produktion einhergeht.
Vonseiten der Forscher ist zudem eine Sache nicht verhandelbar: Innovationen können und dürfen nur unter strenger Beachtung von Aspekten der Nachhaltigkeit angestrebt und erzielt werden. Die im Klartext als „entsetzlich“ zu beschreibenden Auswirkungen der allgegenwärtigen „Fast Fashion“ auf Mensch und Natur sind die unverkennbare Argumentationsgrundlage dafür. Aus diesem Grund gestaltet sich die Forschung an umwelt- und ressourcenschonenden Materialien nicht weniger einfallsreich als die der e-Textilien: Krabbenpanzer, Brennnesseln, Milchreste, Sojaabfälle, Bananenschalen, Kaffeefasern und sogar Spinnenfäden sind nur einige der Rohstoffe, die bisher für Alternativen in Betracht gezogen wurden. Jedoch sind sie kaum zureichend, um den gigantischen und stetig steigenden Bedarf an Kleidung und technischen Textilien auch nur annähernd zu decken. Eine bessere Lösung könnten etwa Braunalgen darstellen, die in ganzen Teppichen auf dem Karibischen Meer treiben – aber auch diese müssen in bisherigen Versuchen noch mit 96 % Zellstoff aus Holz komplementiert werden. Bis wir also von Baumwolle und dem extrem umweltschädlichen Polyester wegkommen, ist es noch ein weiter Weg.
(Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem externen Autor Daniel Suska., 27.12.2017 – )