Eisiges Mysterium: Ein Netzwerk subglazialer Seen unter einem ostantarktischen Gletscher scheint verschwunden zu sein – oder es war niemals vorhanden. Das enthüllt eine neue Radardurchleuchtung des mehr als 1.000 Meter langen Recovery-Gletschers. Sie zeigte zwar Zonen von nassem, warmem Eis an der Unterseite des Eisstroms, nicht aber klare Signaturen von Seen im Eis. Das Seltsame daran: Solche Seen galten bisher als „Motor“ für das schnelle Fließen dieses Gletschers.
Unter dem kilometerdicken Eis der Antarktis verbirgt sich eine äußerst dynamische Landschaft: Neben tiefen Schluchten und schroffen Gebirgen gibt es unter dem Eispanzer auch ein ganzes Vulkangebiet und unzählige subglaziale Seen und Flüsse. Dieses wässrige Netzwerk galt vor allem für die Gletscher der Ostantarktis als wichtige Triebkraft ihres Fließens.
Wasser unter dem Recovery-Gletscher?
Auch unter einem der größten Gletscher der Ostantarktis, dem Recovery-Gletscher, vermuteten Forscher bisher ein Netzwerk an subglazialen Seen. Dieser Eisstrom fließt mit 100 bis 400 Metern pro Jahr vom antarktischen Hochplateau bis zum Filchner-Schelfeis im Wedellmeer. Sein Einzugsgebiet ist dreimal so groß wie Deutschland und umfasst acht Prozent des gesamten Ostantarktischen Eisschilds.
„Auf Satellitenaufnahmen des Gletschers erkennen wir gerade im oberen Einzugsgebiet viele flache, gleichförmige Bereiche an der Oberfläche“, berichtet Angelika Humbert vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Deshalb vermutete man bisher, dass sich unter diesen glatten Zonen subglaziale Seen verbergen, deren auslaufendes Wasser wie ein Gleitfilm für den Eisstrom wirkt. „Ohne diese Seen, so lautete die Vorstellung, würden Eisströme wie der Recovery-Gletscher gar nicht erst entstehen“, sagt Humbert.
Keine Spur von Seen
Doch wie es wirklich unter der Oberfläche des Recovery-Gletschers aussieht, war bisher unbekannt. Um das zu ändern, haben Humbert und ihr Team nun den Gletscher mit Hilfe eines Forschungsflugzeugs großflächig mit dem Radar vermessen. „Bis zu unserer Expedition waren die Form des Recovery-Gletschers und die Gestalt des Felsbetts darunter weitgehend unbekannt. Einige der weißen Flecken auf der Antarktiskarte können wir nun mit Daten füllen“, sagt Humbert.
Das Überraschende jedoch: Von den vermeintlich Bodensee-großen Seen unter dem Eis fanden die Wissenschaftler keine Spur. „Subglaziale Seen müssten eigentlich als helle, flache Reflexionen im Radarbild erschienen, die typischerweise zehn bis 20 Dezibel stärker sind als die Umgebung des Sees“, erklären die Forscher. Doch diese Signaturen ließen sich im Recovery-Gletscher nicht nachweisen.
Eisdecke hebt und senkt sich
Bedeutet dies, dass es die postulierten Seen unterm Gletscher nie gegeben hat? Die neuen Ergebnisse geben den Forschern Rätsel auf. Denn frühere Messungen hatten auffallende Hebungen und Senkungen an den flachen Eiszonen nachgewiesen – Bewegungen, die als Folge auslaufenden Wassers aus den Seen interpretiert wurden. Wenn es diese Seen aber nicht gibt, was verursacht dann diese periodische Hebung und Senkung der Gletscheroberfläche?
„Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir zusätzlich Satellitendaten genutzt und die zuvor gefundenen Höhenänderungen, die auf auslaufende Seen schließen lassen, noch einmal überprüft“, sagt Humbert. Doch diese Daten bestätigten die vertikalen Eisbewegungen in den glatten Zonen. „Wir können die Ergebnisse unserer Kollegen reproduzieren und verstehen, warum sie dort Seen vermuten“, so Humbert.
Ungelöstes Rätsel
Was sich wirklich unter dem Eis des Recovery-Gletschers verbirgt, bleibt damit noch immer rätselhaft. „Unsere neuen Ergebnisse zeigen, dass überfließende Seen nicht der auschlaggebende Mechanismus für die Entstehung eines Eisstromes sein können“, sagt Humbert. „Gleichzeitig weisen unsere Radar-Untersuchungen Schwächen auf, die uns daran zweifeln lassen, ob diese Methode wirklich geeignet ist, subglaziale Seen im vollen Ausmaß nachzuweisen.
So war im Radarbild die Grenze zwischen der Unterseite des Eisstroms und dem Untergrund an einigen Stellen so verwaschen und undeutlich, dass sie kaum auszumachen war. Die Forscher vermuten, dass eine Schicht sehr warmen, wasserreichen Eises die Radarreflexionen schluckt – was es schwer macht, den Aufbau dieser entscheidenden unteren Gletscherschichten zu erkunden.
Hoffnung auf seismische Messungen
„Da sich nun aber auch die Oberflächen- und Höhenanalysen als ungeeignet erwiesen haben, bleiben uns eigentlich nur seismische Untersuchungen, um wirklich zu verstehen, warum sich Eisströme in Bewegung setzen“, sagt Humbert. Dafür allerdings sind aufwändige Landexpeditionen zum entlegenen Gletscher nötig. Eine solche Expedition haben die Forscher nun für den antarktischen Sommer 2020/21 geplant. Dabei wollen sie mit einer seismischen Traverse unter das Eis schauen und parallel das Eis noch einmal mit einem Ultra-Breitband-Eisradar untersuchen.
Beide Datensätze zusammen werden dann hoffentlich mehr Aufschluss darüber geben, warum das Eis des Recovery-Gletschers in seinem Entstehungsgebiet zu gleiten beginnt – und ob es dort nun subglaziale Seen gibt oder nicht. (Journal of Geophysical Research, 2018; doi: 10.1029/2017JF004591)
(Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 13.11.2018 – NPO)