Tragende Veränderung: Forscher haben entschlüsselt, wie die für heutige Säugetiere typische Wirbelsäule entstanden ist. Ihre Analyse von Fossilien zeigt: Das Rückgrat hat im Laufe der Evolution nach und nach Regionen hinzugewonnen. Parallel zu neuen Bewegungsformen entstand zunächst die Brustwirbelsäule, später kam dann ein unabhängiger Lendenbereich hinzu – eine wichtige Voraussetzung für die Anpassung an neue Lebensweisen, wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten.
Säugetiere sind in vielerlei Hinsicht einzigartig. Sie sind warmblütig, haben Fell oder Haare und die meisten von ihnen werden lebend geboren. Und noch etwas unterscheidet die Mammalia von allen anderen Gruppen im Tierreich: ihre Wirbelsäule. „Das Rückgrat ist wie eine Reihe von Perlen auf einer Schnur, wobei jede Perle einen Knochen repräsentiert – einen Wirbel“, sagt Stephanie Pierce von der Harvard University in Cambridge. „Bei den meisten vierbeinigen Tieren sehen diese Perlen alle gleich aus, bei Säugern aber nicht.“
Stattdessen lässt sich die Säugetierwirbelsäule in anatomisch klar voneinander abgrenzbare Regionen unterteilen – zum Beispiel den Nacken, den Brustbereich und die Lende. „Je nach Region haben die Wirbel unterschiedliche Formen und Funktionen und können sich so an vielfältige Verhaltens- und Lebensweisen wie schnelles Rennen, aufrechtes Gehen, Klettern und Fliegen anpassen“, erklärt die Forscherin. Wie und wann aber sind diese spezialisierten Regionen entstanden?
Neue Wirbelregionen
Um dieses Rätsel zu lösen, haben Pierce und ihre Kollegen Dutzende Fossilien von Säugetiervorläufern aus der Gruppe der sogenannten Synapsiden sowie die Wirbelsäulen von über tausend heute lebenden Wirbeltieren analysiert – von der Maus bis zum Alligator. Dabei interessierte sie vor allem die Frage, wie urtümlich die für moderne Säugetiere typischen unterschiedlichen Wirbelbereiche sind.
„Haben sich diese Regionen im Laufe der Evolution der Säugetiere nicht weiter verändert, müssten wir bei heutigen Mammalia dieselben Regionen sehen wie bei ihren Nicht-Säuger-Vorläufern“, sagt Pierce. Dies war aber nicht der Fall: Der Rückgratvergleich zeigte vielmehr, dass die Wirbelsäule im Laufe der Evolution neue Bereiche hinzugewonnen hat. „Die frühesten Synapsiden hatten weniger Wirbelregionen als ihre heute lebenden Nachfahren“, sagt Pierces Kollegin und Erstautorin Katrina Jones.
Flexible Schultern, veränderter Rücken
Eine erste neue Region entstand demnach vor rund 250 Millionen Jahren. Damals veränderten sich bei den Verwandten der heutigen Säuger die Vorderbeine und sie begannen, flexiblere Schultern zu entwickeln. Mit diesen Anpassungen veränderte sich dann auch der obere Rücken, wie die Wissenschaftler berichten: Die Brustregion war optisch und funktional nun deutlich abgetrennt.
Die simultane Veränderung von Schultern und Wirbelsäule macht ihnen zufolge durchaus Sinn. Denn beide Bereiche spielen eine wichtige Rolle für die Fortbewegung. „Die anatomischen Veränderungen spiegeln somit wahrscheinlich wider, dass die Tiere neue Arten zu laufen und zu rennen entwickelten“, schreibt das Forscherteam.
Aus vier mach fünf
Zu den ersten Wesen mit diesem neuen, vierten Wirbelbereich gehörte das säugertierähnliche Reptil Thrinaxodon. Ihm und anderen Säugetiervorfahren fehlt jedoch noch eine fünfte charakteristische Region, die erst später im Bereich der Hüfte hinzukam: die Lendenwirbelsäule.
Dieser letzte Schritt in der Entwicklung des Mammalia-Rückgrats ging wahrscheinlich mit Veränderungen in sogenannten Hox-Genen einher, wie die Wissenschaftler herausfanden. Diese Gene spielen eine wichtige Rolle für die Embryonalentwicklung und steuern unter anderem auch die Ausbildung der Wirbel.
Schlüssel zur Vielfalt
„Unsere Studie zeigt, dass Modifikationen des Bauplans, die später entscheidend für den Aufbau des Säugetierrückens waren, bereits Millionen Jahre vor den ersten echten Säugern entstanden“, sagt Jones. Dank unterschiedlicher und sich unabhängig voneinander entwickelnden Wirbelregionen war es den Säugern überhaupt erst möglich, unzählige verschiedene Ökosysteme und Lebensräume zu erobern, wie das Forscherteam betont.
„Dies ist auch Teil unserer eigenen Geschichte: Wir laufen heute aufrecht auf zwei Beinen. Doch ohne diese Veränderungen des Rückgrats hätten sich die Menschen nie in dieser Form entwickeln können“, schließt Mitautor Ken Angielczyk vom Field Museum of Natural History in Chicago. (Science, 2018; doi: 10.1126/science.aar3126)
(AAAS/ Harvard University/ Field Museum/ National Science Foundation, 24.09.2018 – DAL)