„Mach das Licht an beim Lesen, du verdirbst dir die Augen!“ – Diese Ermahnung haben vermutlich viele als Kind schon gehört. Aber ist diese elterliche Sorge überhaupt begründet? Kann Lesen bei zu schummrigem Licht tatsächlich zu Kurzsichtigkeit oder anderen Fehlsichtigkeiten führen?
„Noch vor 50 Jahren dachte man, Kurzsichtigkeit wäre genetisch bedingt, mit nur ganz geringen Einflüssen durch die Umwelt“, erklärt Ian Morgan von der Australian National University in Canberra. Doch dann hätten Versuche mit Affen und Vögeln gezeigt, dass man diese Fehlsichtigkeit auch gezielt hervorrufen könne. So wurden Hühnerküken spezielle Matt-Brillen aufgesetzt, die ihre Sicht unscharf machten. Als Folge begann der Augapfel der Küken zu wachsen. Das von der Augenlinse erzeugte Bild traf dadurch nicht mehr genau auf die Netzhaut – die Küken waren kurzsichtig.
Trübe Sicht lässt Augapfel wachsen
„Die Experimente haben gezeigt, dass feine Details auf der Netzhaut scharf abgebildet sein müssen, um ein übermäßiges Wachstum des Augapfels zu verhindern“, erklärt Frank Schaeffel vom Universitätsklinikum Tübingen. Das gelte auch für den Menschen. Wachsen Kinder beispielsweise mit einer getrübten Augenlinse auf, werden auch sie kurzsichtig – das Auge versucht so, die vermeintliche Weitsichtigkeit zu korrigieren.
Aber auch Lichtmangel kann diesen Effekt auslösen: Schaeffel und seine Kollegen vom Universitätsklinikum haben vor einigen Jahren Küken eine Art Sonnenbrille aufgesetzt und sie damit gezwungen, in dauerhaftem Schummerlicht zu leben. Auch diese Küken entwickelten eine Kurzsichtigkeit, allerdings in geringerem Maße als ihre Artgenossen mit der Matt-Brille.
Epidemie der Kurzsichtigkeit bei Schulkindern
Was aber heißt das für uns? Hinterlässt das Lesen unter der Bettdecke oder in der dunklen Zimmerecke tatsächlich bleibende Schäden? Nach Ansicht der Experten muss die Antwort darauf wohl „jein“ lauten. Denn Studien zeigen, dass Kurzsichtigkeit in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem unter Schulkindern dramatisch zugenommen hat. „Es gibt dabei einen engen Zusammenhang zwischen der in der Schule verbrachten Zeit und der Sehschwäche“, sagt Morgan. So sei der Anteil der kurzsichtigen Kinder in Asien stark angestiegen, als sich dort das Bildungsniveau verbesserte und die Kinder mehr Zeit in der Schule und über ihren Hausaufgaben verbrachten.
Aber ist daran wirklich das Lesen schuld? Die Ergebnisse dazu sind widersprüchlich. Forscher halten es aber für wahrscheinlich, dass die Ursache weniger das Lesen ist, als vielmehr das vermehrte Stubenhocken der Kinder. „Jüngste Studien haben gezeigt, dass ein häufigerer Aufenthalt im Freien Kinder gegen die Entwicklung von Kurzsichtigkeit schützen kann“, sagt Morgan. Denn das helle Tageslicht führe dazu, dass im Auge der Botenstoff Dopamin freigesetzt werde. Dieser wiederum verhindere, dass der Augapfel übermäßig wachse. Verbringen Kinder mehr Zeit in geschlossenen Räumen und halten sich weniger im Freien auf, fehlt dieser bremsende Effekt.
Dieser Zusammenhang erkläre auch, warum Stadtkinder häufiger kurzsichtig seien als Kinder auf dem Land, sagt der Forscher: Sie spielen weniger häufig draußen als ihre ländlichen Altersgenossen. In China und Singapur seien bereits Pilotprogramme im Gange, die Familien gezielt zu mehr Freizeitaktivitäten draußen anregen sollen. Auch wenn die Ergebnisse dieser Studien noch nicht vorliegen: Es kann den Augen sicher nicht schaden, wenn Leseratten auch bei uns häufiger mal nach draußen gehen. Nach Ansicht der Forscher spricht vieles dafür, dass dies die Belastung der Augen durch das Nahsehen zumindest in Teilen ausgleichen kann.