Verblüffende Feststellung: Entgegen gängiger Lehrmeinung könnten Schallwellen eine Art Masse besitzen. Denn neue Berechnungen sprechen dafür, dass diese Wellen mit der Gravitation wechselwirken und so eine Masse transportieren. Doch nicht nur das: In vielen Materialien könnte diese „Schallmasse“ sogar negativ sein – Schallwellen müssten sich demnach leicht gegen die Schwerkraft biegen, wie die Wissenschaftler erläutern.
Schall ist ein ebenso alltägliches wie faszinierendes Phänomen. Denn die Druck- und Dichte-Schwankungen der Schallwellen transportieren nicht nur Geräusche und Musik in unsere Ohren. Sie können auch Licht beeinflussen und sogar wie mit einem Traktorstrahl Objekte in der Schwebe halten. Möglich wird dies, weil Schallwellen ihre Energie und ihren Impuls auf diese Objekte übertragen können.
„Bisher ist es akzeptierter Fakt, dass Schallwellen zwar Impuls und Energie transportieren, nicht aber Masse“, erklären Angelo Esposito von der Columbia University in New York und seine Kollegen. „Doch wir stellen nun diesen ‚Fakt‘ in Frage.“
Exotische Schall-Reaktion in ultrakaltem Helium
Ausgangspunkt dafür ist eine Beobachtung, die Physiker im Jahr 2018 bei superfluidem, ultrakaltem Helium machten: Als sie das Verhalten von Schallwellen in diesem Medium theoretisch nachvollzogen, kamen sie zu einem überraschenden Schluss: Die Phononen – Quanteneinheiten akustischer Wellen – in dieser exotischen Flüssigkeit reagierten auf die Schwerkraft. „In Gegenwart eines externen Gravitationsfelds, wie dem der Erde, biegt sich die Flugbahn eines Phonons aufwärts“, berichten Esposito und seine Kollegen.
Wegen der exotischen Bedingungen im superfluiden Helium konnten die Forscher damals jedoch nicht ausschließen, dass daran schwerkraftbedingte Dichteveränderungen im Medium oder Quanteneffekte schuld waren. Deswegen haben Esposito und sein Team nun dieses Phänomen erneut untersucht und theoretisch durchgerechnet – für klassische Schallwellen in ganz normalen Flüssigkeiten und Feststoffen.
Auch normale Schallwellen transportieren Masse
Das verblüffende Ergebnis: Auch unter normalen Bedingungen scheinen Schallwellen mit der Schwerkraft zu interagieren. „Entgegen landläufiger Annahme transportieren Schallwellen eine mit der Gravitation verknüpfte Masse im newtonschen Sinne – die Art von Masse, der wir jeden Tag begegnen“, konstatiert Esposito. Diese „mitgeschleppte“ Masse existiert demnach bei Schallwellen in normalen Flüssigkeiten und Feststoffen ebenso wie bei den Superfluiden.
Nach Ansicht der Forscher wurde diese überraschende Tatsache bisher übersehen, weil niemand auf die Idee kam, nach möglichen Interaktionen des Schalls mit der Schwerkraft zu suchen. Zudem sei die vom Schall vermittelte Masse sehr gering und bei normalen Experimenten bisher nicht nachweisbar. So entspricht die von einem energiereichen Phonon in ultrakaltem Helium übertragene Masse beispielsweise der eines einzelnen Heliumatoms – zu wenig, um mit gängiger Technik messbar zu sein.
Von der Gravitation abgestoßen
Wie groß die vom Schall transportierte Masse ist, hängt allerdings von der Energie der Schallwelle sowie dem Zustand und der Dichte des Mediums ab, wie die Forscher berichten. So besitzt die seismische Welle eines Erdbebens der Magnitude 9 eine Energie von rund einer Trillion Joule. „Bei einer Ausbreitungsgeschwindigkeit von fünf Kilometern pro Sekunde entspricht dies einer Masse von hundert Milliarden Kilogramm“, so Esposito und seine Kollegen.
Überraschend jedoch: Offenbar reagieren die Schallwellen genau umgekehrt auf Schwerkraft als normale Masse – sie bewegen sich von ihr fort, statt von ihr angezogen zu werden. „Für normale Zustandsgleichungen bei hoher Schallgeschwindigkeit und höheren Drücken ist die von den Schallwellen vermittelte Masse negativ“, erklären die Physiker. Ähnlich wie bei den Phononen im Helium müssten sich demnach auch normale Schallwellen unter Schwerkrafteinfluss ganz leicht aufwärts biegen.
So unglaublich und exotisch dies klingt, die Wissenschaftler sind von der Richtigkeit ihrer Berechnungen überzeugt: „Wir vertrauen unseren Ergebnissen“, betont Espositos Kollege Alberto Nicolis. Wie allerdings die Schallwellen diese Masse transportieren und welcher physikalische Mechanismus dahintersteckt, wissen auch sie noch nicht.
„Schallmasse“ bald messbar?
Die Physiker hoffen aber, dass diese „Schallmasse“ schon bald nachweisbar sein könnte – beispielsweise bei Erdbebenwellen. Denn die von ihnen transportierte Masse müsste theoretisch auch selbst eine Schwerkraftwirkung besitzen. Eine solche Welle müsste daher die Erdschwerkraft um einen winzigen Wert verändern – um ein Zehntausendstel Nanometer pro Quadratsekunde, wie die Forscher ausgerechnet haben.
„Zurzeit können Atomuhren und Quanten-Gravimeter schon Schwerkraft-Schwankungen von weniger als einem Nanometer pro Quadratsekunde detektieren“, so Esposito und sein Team. „Man kann sich daher durchaus vorstellen, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft die nötige Sensibilität erreichen werden, um die Gravitationsfelder seismischer Wellen zu detektieren.“ (Physical Review Letters, 2019; doi: 10.1103/PhysRevLett.122.084501)
Quelle: American Physical Society (APS)