Dramatischer Wandel: Dem Transpolarstrom, der Meereis quer über den Nordpol schiebt, geht der Nachschub aus. 80 Prozent des jungen Meereises schmelzen, bevor dieses seine Kinderstube vor der Küste Sibiriens verlassen hat, wie eine Studie enthüllt. Durch diese Entwicklung rückt nicht nur der eisfreie Nordpol ein großes Stück näher, die versiegende Eisdrift verändert auch wichtige Stoffkreisläufe im Arktischen Ozean, wie die Forscher im Fachmagazin „Scientific Reports“ berichten.
Das Meereis der Arktis schwindet rapide, die Ausdehnung dieser wichtigen Eiskappe über dem Nordpol erreicht immer neue Rekordminima. Schon jetzt sind einst komplett vereiste Schifffahrtsstraßen wie die Nordost- und Nordwestpassage im Sommer eisfrei und schiffbar. Ab 2040, so schätzen Forscher, könnte sogar der Nordpol schiffbar werden. Doch der Schwund des arktischen Meereises hat nicht nur Auswirkungen auf Schifffahrt, Klima und die arktische Tierwelt – er beeinflusst auch wichtige Transportwege und Strömungen im arktischen Meer.
Einmal quer über das Nordpolarmeer
Eine dieser großen arktischen Strömungen ist die Transpolardrift. Sie treibt Meereis von den Küsten Sibiriens einmal quer durch die zentrale Arktis bis in die Framstraße zwischen Island und Grönland. Auf dieser langsamen Drift ist das Eis rund zwei bis drei Jahre unterwegs, bis es dann im Nordatlantik allmählich schmilzt. Vor zwei Jahrzehnten trat noch rund die Hälfte des Eises aus den russischen Schelfmeeren diese transarktische Reise an.
Doch das hat sich inzwischen geändert, wie nun Thomas Krumpen vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und sein Team festgestellt haben. Für ihre Studie verfolgten sie die Wanderung des Meereises zwischen 1998 und 2017 mithilfe von Satellitendaten und ermittelten dabei, wie viel von dem vor Sibirien gebildeten Meereis an der Drift teilnimmt und bis zu Framstraße mitwandert.
80 Prozent schmelzen noch in der Kinderstube
Das erschreckende Ergebnis: Nur noch 20 Prozent des Meereises, das in den flachen Schelfmeeren vor Sibirien entsteht, gelangen überhaupt noch in die Transpolardrift. Die restlichen 80 Prozent des jungen Eises schmelzen, noch bevor es älter als ein Jahr ist und die zentrale Arktis erreichen konnte. „Jenes Eis, welches heutzutage die Framstraße erreicht, wird zum größten Teil nicht mehr in den Randmeeren gebildet, sondern stammt aus der zentralen Arktis“, berichtet Krumpen.
Bestätigt wird dies durch Meereisdicken-Messungen in der Framstraße. „Eis, das heutzutage die Arktis durch die Framstraße verlässt, ist rund 30 Prozent dünner als noch vor 15 Jahren“, berichtet Krumpen. Neben der Klimaerwärmung ist dafür auch der fehlende Eisnachschub aus Sibirien verantwortlich: „Dieses Eis wurde nicht mehr in den Schelfmeeren gebildet, sondern viel weiter nördlich. Es hatte daher deutlich weniger Zeit, durch die Arktis zu treiben und zu mächtigerem Packeis heranzuwachsen“, erklärt der Meereisphysiker.
Transarktischer Stofftransport gestört
Doch der versiegende Nachschub beeinflusst nicht nur die Eisdecke des Nordpolarmeeres, er bremst auch den Stoffaustausch zwischen den verschiedenen Teilen des arktischen Ozeans. Denn mit dem driftenden Eis werden auch Nährstoffe, Algen und Sedimente einmal quer über den Nordpol verfrachtet. Lässt dieser Transport nun nach, kommt dadurch am Ende der Drift weniger Material in einer anderen Zusammensetzung an.
Das bestätigen auch Sinkstoffanalysen, die die AWI-Forscher seit gut 20 Jahren in der Framstraße durchführen: „Anstelle sibirischer Mineralien landen mittlerweile mehr Überreste abgestorbener Algen und Kleinstlebewesen in unseren Sedimentfallen“, berichtet Krumpens Kollegin Eva-Maria Nöthig. Dieser Wandel könnte langfristig die biogeochemischen Kreisläufe und ökologischen Prozesse im Arktischen Ozean nachhaltig verändern.
Versiegender Strom
„Wir werden derzeit Zeuge, wie ein wichtiger Transportstrom abreißt und die Welt einem meereisfreien Sommer in der Arktis einen großen Schritt näherkommt“, betont Krumpen. Wenn der Transpolarstrom und mit ihm der eisgebundene Transport über den Nordpol komplett abreißt, könnte dies erhebliche Folgen für die Ökologie und Artenvielfalt des arktischen Meeres haben. (Scientific Reports, 2019; doi: 10.1038/s41598-019-41456-y)
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung