Bis heute rätselhaft: Astronomen haben neue Erkenntnisse darüber gewonnen, was die rätselhafte Explosion im sibirischen Tunguska am 30. Juni 1908 verursacht hat. Demnach ist der wahrscheinlichste Urheber kein Komet, sondern ein 50 bis 80 Meter großer Gesteins-Asteroid, der in fünf bis 15 Kilometer Höhe explodierte. Simulationen belegen, dass selbst ein massiver Brocken bei einer solchen Explosion nahezu restlos zerrissen würde – was den fehlenden Krater erklärt.
Das Tunguska-Ereignis gibt bis heute Rätsel auf, denn seine Ursache ist noch immer nicht eindeutig geklärt. Klar scheint, dass sich am 30. Juni 1908 eine gewaltige Explosion über der sibirischen Taiga ereignete, in deren Folge Bäume auf einer Fläche von mehr als 2.000 Quadratkilometer umgerissen und zerstört wurden. Nur im Zentrum des Gebiets blieben Baumstämme, ihrer Äste beraubt, wie Telegrafenmasten senkrecht stehen. Stellenweise wiesen die Stämme Spuren extremer Strahlungshitze auf, zudem wurden winzige verglaste Gesteinstrümmer und veränderte Isotopenwerte im Umfeld der Explosion gefunden.
Ursache bis heute strittig
Doch was war die Ursache der Explosion? Erste Hypothesen gingen von einem Vulkanausbruch oder dem Einschlag eines Meteoriten aus. In beiden Fällen aber hätte das Ereignis einen Krater hinterlassen müssen – und ein solcher wurde nie gefunden. Auch Trümmer eines möglicherweise in der Luft zerplatzten Meteoriten fehlen. „Diese Beobachtungen führten zu der Hypothese, dass der Urheber ein Komet war, weil ein solches eisreiches Objekt leichter in der Atmosphäre zerplatzt als ein Gesteinsasteroid“, erklären Darrel Robertson und Donovan Mathias vom NASA Ames Research Center.
Gängiger Theorie nach wurde das Tunguska-Ereignis demnach von einem Kometen ausgelöst, der in einigen Kilometern Höhe über Grund explodierte. Doch ob es wirklich ein Komet war, wie groß das Objekt war und welche Energie die Explosion freisetzte, ist bis heute umstritten. Eine neue Chance, mehr herauszufinden, hat sich den Forschern jedoch im Februar 2013 eröffnet – als ein Asteroid über dem russischen Ort Tscheljabinsk explodierte.
Neues Modell simuliert kosmische Treffer
Ausgehend von der Tscheljabinsk-Explosion haben Robertson und Mathias nun ein geophysikalisches Modell entwickelt, das die Folgen einer atmosphärischen Explosion verschiedener Himmelskörper genauer als bisher simulieren kann. Damit haben sie auch die Tunguska-Explosion und ihre möglichen Urheber rekonstruiert. Sie suchten dabei gezielt nach Objekten und Ereignissen, die das beobachtete Umfallmuster der Bäume und die Abwesenheit eines Kraters und anderer klassischer Einschlagsspuren reproduzieren können.
Das Ergebnis: Das Objekt, das über Tunguska explodierte, muss rund 50 bis 80 Meter groß gewesen sein. Die Explosion ereignete sich in fünf bis 15 Kilometer Höhe und setzte rund zehn bis 30 Megatonnen an Energie frei, wie die Forscher berichten. Dabei entstand eine Druckwelle, die mit 40 bis 50 Metern pro Sekunde durch die sibirische Taiga fegte, wie die Forscher berichten.
Eher ein Gesteinsbrocken als ein Komet
Was aber war das für ein Objekt? Entgegen allgemeiner Annahme muss der kosmische Bolide kein eisreicher Komet gewesen sein – auch ein Gesteinsmeteorit kommt als Auslöser der Tunguska-Explosion in Frage, wie die Modellrechnungen ergaben. „Unsere Simulation zeigt, dass viele Meteore das Umsturzmuster der Bäume erzeugt haben können – darunter sowohl typische Gesteinsasteroiden als auch typische kurzperiodische Kometen“, berichten die Forscher. „Bei vielen dieser atmosphärischen Explosionen erreichten keine Fragmente den Boden – das passt zum Fehlen eines offensichtlichen Kraters in Tunguska.“
Nach Ergebnissen der Forscher ist ein Komet sogar unwahrscheinlicher als ein Gesteinsasteroid: „Bei einem flachen Eintrittswinkel hätte der Komet unrealistisch stabil sein müssen, ein steiler Eintrittswinkel dagegen passt nicht zu den für Kometen typischen Winkeln von zehn bis 50 Grad“, erklären Robertson und Mathias. Einen langperiodischen Kometen schließen sie fast völlig aus, weil dessen höhere Geschwindigkeit ihn bereits in viel größerer Höhe zerrissen hätte.
Damit stützen die neuen Ergebnisse eine frühere Studie, nach der auch steinige Asteroiden fast trümmerlos in der Atmosphäre zerplatzen können. Gerade porösere Brocken explodieren demnach quasi von innen und werden dabei in winzige Stücke zerrissen. Ähnliches könnte auch über Tunguska geschehen sein, vermuten die Forscher.
Nur alle paar tausend Jahre
Beruhigend jedoch: In einer weiteren Studie hat ein Forscherteam nun die Wahrscheinlichkeit für ein Tunguska-Ereignis erneut überprüft – und gibt quasi Entwarnung. Denn während bisherige Schätzungen von einem solchen Ereignis alle paar hundert Jahre ausgingen, schätzen die Wissenschaftler die Intervalle basierend auf den neuen Größenschätzungen nun eher auf ein bis zweieinhalb Jahrtausende. Die Wahrscheinlichkeit, zu unseren Lebzeiten eine solche Explosion zu erleben, ist demnach zwar nicht gleich null, aber eher gering.
Dennoch mahnen die Wissenschaftler zur Wachsamkeit und betonen die Wichtigkeit von Asteroiden-Überwachungsprogrammen und Frühwarnsystemen. „Tunguska ist das größte kosmische Ereignis, das die moderne Menschheit erlebt hat“, sagt David Morrison vom Ames Research Center. „Und es ist charakteristisch für die Art von Einschlag, gegen die wir uns am wahrscheinlichsten in der Zukunft schützen müssen.“ (Icarus, 2019; doi: 10.1016/j.icarus.2018.10.017; doi: 10.1016/j.icarus.2019.04.006)
Quelle: NASA