Im Urmeer vor 570 bis 540 Millionen Jahren tummelt sich eine extrem bizarre Lebenswelt. Einige dieser Wesen aus dem Ediacarium-Zeitalter gleichen einem leeren Sack, andere ähneln einer Scheibe, einem verzweigten Blatt oder einer halbaufgepumpten Luftmatratze. Sogar erste Riffbaumeister gab es damals bereits, wie Fossilfunde nahelegen.
Einzeller, Flechten oder Tiere?
Doch worum handelte es sich bei diesen Wesen? Waren es überhaupt schon Mehrzeller oder Tiere? Die meisten von ihnen sind so exotisch und fremdartig, dass man sie nicht einmal ansatzweise irgendeiner Großgruppe im Organismenreich zuordnen kann. Ein prominentes Beispiel dieser Rätselwesen ist Dickinsonia. Auf den ersten Blick ähneln diese flachen, ovalen Fossilien dem segmentierten Körper einer Assel oder eines anderen Krebses. Denn auch bei Dickinsonia gehen von einer Mittelachse beidseitig rippenförmige Unterteilungen aus.
Etwas Entscheidendes fehlt allerdings: Obwohl Dickinsonia bis zu 1,40 Meter lang werden konnte, besitzt sie weder Mund, noch Darm oder sonstige erkennbare Organe – und ähnliches gilt für die meisten Ediacara-Spezies. Auf den ersten Blick spricht dies eher gegen ein komplexeres tierisches Lebewesen. „Forscher streiten seit mehr als 75 Jahren darüber, was Dickinsonia war: ein riesenhafter Einzeller, eine Flechte, eines der ersten Tiere oder doch nur ein gescheitertes Experiment der Evolution?“, sagt Ilya Bobrovskiy von der Australian National University.
Eine Antwort auf diese Fragen haben Bobrovskiy und sein Team erst vor kurzem gefunden. Denn es gelang ihnen erstmals, Reste organischer Bestandteile in Dickinsonia-Fossilien zu finden und zu analysieren. Das Ergebnis war überraschend eindeutig: Das Material bestand zu 93 Prozent aus Cholesterin-ähnlichen Molekülen – Verbindungen, die für tierische Lebewesen typisch sind. Damit ist klar: Dickinsonia war ein mehrzelliges Tier.
Vorläufer der modernen Tier-Baupläne?
Wenn aber Dickinsonia und ihre Zeitgenossen schon echte Tiere waren – wo im Stammbaum des Tierreichs soll man sie einordnen? Naheliegend wäre die Vermutung, dass die Ediacara-Fauna ein Vorläufer der kambrischen Lebenswelt war. Dann müssten diese ersten Tiere – so bizarr sie auf den ersten Blick wirken – schon einige Merkmale der modernen Grundbaupläne aufweisen.
Tatsächlich gibt es einige wenige Ediacara-Spezies, die solche Parallelen zeigen. Zu ihnen gehört Kimberella quadrata, ein ovales, von einer gerieften Rückenschale bedecktes Wesen. Die zweiseitige Symmetrie dieses Wesens und Hinweise auf ein klares Vorder- und Hinterende könnten ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei ihr bereits um eine frühe Form der Bilateria handelt – der Großgruppe des Tierreichs, zu dem alle höheren Tiere außer Schwämmen, Nesseltieren und Rippenquallen gehören.
Spannend auch: Kimberella könnte wie die heutigen Schnecken schon eine Art Raspelzunge besessen haben, mit dem sie den Untergrund abweidete. Indizien dafür liefert ein rüsselartiger Vorsprung einiger Kimberella-Fossilien, der von versteinerten Kratzspuren umgeben ist. Sollte es sich tatsächlich um ein solches Raspelorgan handeln, dann könnte Kimberella eine Art „Urschnecke“ gewesen sein.
Ausprobiert und verworfen?
Das Problem jedoch: Kimberella ist eher eine Ausnahme unter den Bewohnern des Ediacarium-Meeres. Die meisten anderen Organismen dieser Zeit besitzen Körperformen und Strukturen, die in dieser Form und Kombination nirgendwo sonst im Tierstammbaum auftauchen. Es scheint fast, als hätte die Natur damals noch mit verschieden Grund-Designs herumexperimentiert – und viele der Ediacara-Entwürfe später wieder verworfen. Ob und wie diese fremdartigen Wesen mit späteren Tierformen verwandt sind, ist bisher völlig offen.