Schläfrigkeit als Warnsignal: Ausgeprägte Tagesmüdigkeit könnte das Zeichen einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung sein. Denn wie eine Studie nahelegt, werden schon in frühen Stadien der Demenz für Wachheit wichtige Regionen im Gehirn angegriffen. Ansammlungen fehlgebildeter Tau-Proteine führen demnach zu einem massiven Zellverlust in diesen Wachzentren. Die für Alzheimer typischen Beta-Amyloid-Plaques scheinen in diesem Zusammenhang dagegen keine Rolle zu spielen.
Lange bevor sich bei Alzheimer-Patienten die ersten Gedächtnisprobleme manifestieren, kann sich die beginnende Demenz bereits durch unspezifische Symptome äußern. So entwickeln viele Betroffene beispielsweise eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit. Sie schlafen tagsüber ungewöhnlich viel und nicken auch ungewollt häufig ein.
Warum das so ist, dazu gibt es unterschiedliche Theorien: Einige Forscher gehen davon aus, dass Alzheimer bereits im Frühstadium für den Schlaf wichtige Hirnregionen stört und die Tagesmüdigkeit ein Zeichen für die dadurch ausgelösten nächtlichen Schlafstörungen ist. Andere wiederum deuten Schlafmangel als einen möglichen Auslöser der Erkrankung. Schlechter Schlaf, so die Vermutung, könnte die Entstehung neurodegenerativer Prozesse fördern.
Blick ins Alzheimer-Gehirn
Eine weitere mögliche Erklärung liefern nun Jun Oh von der University of California in San Francisco und seine Kollegen: Sie haben Hinweise darauf gefunden, dass Alzheimer direkt die für die Wachheit am Tag verantwortlichen Bereiche im Gehirn angreift – und dadurch die auffällige Schläfrigkeit der Betroffenen auslöst.
Um mehr über den Zusammenhang zwischen Tagesmüdigkeit und Alzheimer herauszufinden, untersuchten die Wissenschaftler Hirngewebe von 13 verstorbenen Demenzpatienten und sieben Kontrollpersonen. Dabei konzentrierten sie sich vor allem auf drei Regionen eines Netzwerks, das Wachsein und Aufmerksamkeit fördert: den Locus caeruleus, den lateralen Hypothalamus sowie den Nucleus tuberomamillaris.
Wachzentren angegriffen
Die Auswertungen offenbarten: Anders als in den gesunden Gehirnen hatten sich im Denkorgan der Alzheimer-Patienten große Mengen fehlgefalteter Tau-Proteine in den Wachzentren angesammelt. Diese fadenförmigen Proteine sind neben den Beta-Amyloid-Plaques der zweite fehlgebildete Proteintyp im Gehirn von Betroffenen und sitzen innerhalb der Neuronen.
Mit diesem Befund ging ein drastischer Zellverlust einher. Bis zu 75 Prozent der Neuronen waren in den untersuchten Hirnregionen abgestorben, wie die Forscher berichten. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die für Wachheit verantwortlichen Hirnbereiche schon in den frühen Stadien der Erkrankung zu degenerieren beginnen“, berichtet Ohs Kollegin Lea Grinberg.
Gesamtes Netzwerk betroffen
Bemerkenswert ist dem Team zufolge, dass das gesamte Wachheit-fördernde Netzwerk von diesem Prozess betroffen zu sein scheint. „Das bedeutet auch: Das Gehirn hat keine Möglichkeit, den Verlust zu kompensieren, weil all diese funktionell verwandten Bereiche und Zelltypen gleichzeitig zerstört werden“, erklärt Oh.
Doch ist die Degeneration dieser Hirnregionen tatsächlich charakteristisch für Alzheimer? Um dies zu überprüfen, untersuchten die Wissenschaftler Hirnproben von sieben Betroffenen von zwei anderen degenerativen Erkrankungen des Gehirns, die ebenfalls mit verklumpten Tau-Proteinen einhergehen: der progressiven supranukleären Blickparese (PSP) und der kortikobasalen Degeneration (CBD).
Ein mögliches Frühwarnzeichen
Das Ergebnis: Obwohl sich bei diesen Personen insgesamt vergleichbar viel fehlgebildetes Tau-Protein im Gehirn abgelagert hatte wie bei den Alzheimer-Patienten, waren die für Wachheit wichtigen Neuronen bei ihnen weitestgehend verschont geblieben. „Es scheint, dass dieses Netzwerk bei Alzheimer besonders gefährdet ist“, konstatiert Oh.
Bestätigt sich dieser Zusammenhang, könnte Tagesmüdigkeit künftig als ein wichtiges Frühwarnzeichen für eine beginnende Alzheimer-Erkrankung fungieren, wie der Mediziner und seine Kollegen betonen – vor allem dann, wenn sich die Schläfrigkeit nicht mit nächtlichen Schlafproblemen erklären lässt.
Tau-Protein erneut im Fokus
Darüber hinaus rückt das nun beobachtete Phänomen erneut das Tau-Protein in den Fokus. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass wir uns verstärkt auf die frühen Stadien der Tau-Akkumulation konzentrieren müssen, wenn wir eine wirkungsvolle Therapie finden wollen“, betont Grinberg. Tatsächlich deuten auch andere Erkenntnisse aus der Alzheimerforschung darauf hin, dass die Tau-Proteine ein effektiverer Angriffspunkt für Therapien sein könnten als die bisher als Hauptursache geltenden Beta-Amyloid-Plaques. (Alzheimer’s and Dementia, 2019; doi: 10.1016/j.jalz.2019.06.3916)
Quelle: University of California San Francisco