Letzter Ausweg? Ob ein Patient mit Depressionen selbstmordgefährdet ist, könnte künftig ein Blick ins Gehirn verraten. Denn die Verknüpfung bestimmter Netzwerke im Denkorgan ist bei Patienten mit suizidalem Verhalten anders als bei Patienten ohne eine solche Vorgeschichte, wie eine Studie nahelegt. Womöglich ergeben sich daraus neue Ansätze für Prävention und Therapie.
Rund 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben – häufig sind es Depressionen, die sie in den Tod treiben. Diese und andere affektive Störungen gehen oftmals mit einem erhöhten Risiko zur Selbsttötung einher. Doch die Alarmzeichen bei Betroffenen zu erkennen, ist für Angehörige und selbst für Mediziner nicht immer leicht.
Wer ist gefährdet?
„Aktuell gibt es nur wenige Möglichkeiten, Individuen mit einem erhöhten Risiko für suizidales Verhalten zu identifizieren“, erklärt Koautor Scott Langenecker von der University of Utah in Salt Lake City. „Wir müssen uns auf die Eigeneinschätzung des Patienten und das Urteil des behandelnden Arztes verlassen. Das ist gut, aber nicht gut genug.“
Bekannt ist, dass Erkrankungen wie Depressionen mit Auffälligkeiten in neuronalen Schaltkreisen wie dem kognitiven Kontrollnetzwerk, dem Salienz-Netzwerk und dem Default-Mode-Netzwerk in Verbindung stehen. Langenecker und seine Kollegen um Erstautor Jonathan Stange von der University of Illinois in Chicago haben sich daher nun gefragt: Könnte der Blick auf diese Hirnnetze auch etwas über das Selbstmordrisiko verraten?
Blick ins Denkorgan
Um dies herauszufinden, schauten sich die Forscher mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) das Gehirn von 212 jungen Erwachsenen an. Unter den Studienteilnehmern waren 18 Personen mit einer affektiven Störung, die schon einen Selbstmordversuch hinter sich hatten. Außerdem nahmen 60 Patienten teil, die zumindest schon einmal Suizidgedanken gehabt hatten sowie 52 Patienten ohne eine solche Vorgeschichte und 82 völlig gesunde Kontrollpersonen.
Alle Patienten waren zum Zeitpunkt der Studie in einer sogenannten Remissionsphase – es ging ihnen also vergleichsweise gut. Die Forscher untersuchten im Hirnscanner, welche Hirnareale bei ihren Probanden im ruhigen, entspannten Zustand aktiv waren. Dabei interessierten sie sich vor allem für die funktionelle Verknüpfung zwischen und innerhalb der schon zuvor identifizierten Netzwerke. „Dies ist eine der ersten Studien, die versucht, die neuronalen Mechanismen hinter dem Selbstmordrisiko zu verstehen“, sagt Stange.
Geringere Verknüpfung
Und tatsächlich zeigten sich in diesem Punkt Unterschiede: Bei den Patienten mit Selbsttötungsversuch war nicht nur die Verknüpfung innerhalb des unter anderem an Problemlösung und Impulsivität beteiligten kognitiven Kontrollnetzwerks vermindert. Dieses Netzwerk hatte auch weniger stark ausgebildete Verbindungen zu anderen Netzwerken wie dem Default-Mode-Netzwerk.
„Diese Ergebnisse legen nahe, dass Patienten mit affektiven Störungen und einer Vorgeschichte suizidalen Verhaltens charakteristische Muster der Netzwerk-Verknüpfung aufweisen“, konstatieren die Wissenschaftler. Selbst von Betroffenen mit Suizidgedanken aber noch keinem Selbstmordversuch hoben sich diese Muster demnach ab.
Neuer Ansatz für Prävention und Therapie
In Zukunft könnten sich damit neue Möglichkeiten eröffnen, Suizid gefährdete Patienten zu identifizieren und womöglich sogar zu behandeln. „Finden wir einen Weg, die Verknüpfung innerhalb dieses Schaltkreises zu verbessern, könnten wir vielleicht das Selbstmordrisiko verringern“, spekuliert Stange.
Bis es soweit ist, ist jedoch weitere Forschung nötig. Da die Zahl der Probanden mit zurückliegendem Selbstmordversuch in der Untersuchung eher klein war, wollen die Wissenschaftler in Zukunft Studien mit einer größeren Anzahl Betroffener durchführen und diese über einen längeren Zeitraum begleiten.
„Selbstmorde verhindern“
Die Forscher hoffen so auch herauszufinden, wie das Gehirn in einer akuten suizidalen Phase aussieht, die ein Eingreifen erfordert. „Schlussendlich geht es uns darum, diese Informationen zu nutzen, um Selbstmorde zu verhindern“, schließt Stange. (Psychological Medicine, 2019; doi: 10.1017/S0033291719002356)
Quelle: University of Illinois Chicago