Ein Tonschnipsel genügt: Unser Gehirn erkennt vertraute Lieder erstaunlich schnell. Es braucht nur 100 bis 300 Millisekunden, um ein Musikstück als bekannt einzuordnen, wie Experimente offenbaren. Doch das Wiedererkennen zeigt sich nicht nur im Gehirn: Auch unsere Pupillen reagieren. Sie weiten sich vor Erregung, wenn wir einen vertrauten und beliebten Song hören.
Musik ist tief in unserer menschlichen Natur verankert: Weltweit gibt es kaum eine Kultur, die keine Musik kennt und schon ungeborene Kinder im Mutterleib reagieren auf melodische Töne. Der Klang von Musik entfaltet dabei vor allem eine starke emotionale Wirkung. Er kann uns zum Weinen bringen, Erinnerungen wecken – oder regelrechte Hochgefühle verursachen.
Wie bestimmte Musik auf einen Menschen wirkt, ist individuell jedoch ganz unterschiedlich. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass wohl jeder einen anderen Lieblingssong hat. Wo der eine das Radio genervt abschaltet, dreht der andere richtig laut auf und singt aus vollem Halse mit.
Song erkannt?
Interessanterweise scheinen sich unsere beliebtesten Musikstücke auf besondere Weise im Gehirn zu verankern: Oft reichen schon wenige Töne, um das Lied zu erkennen. Doch wie schnell genau kann das Denkorgan vertraute Melodien identifizieren? Robert Jagiello vom University College London und seine Kollegen haben nun den Test gemacht.
Für ihre Studie rekrutierten die Forscher fünf Männer und fünf Frauen, die jeweils fünf ihnen bekannte Popsongs nannten, die sie mit positiven Gefühlen und Erinnerungen verbanden. Zu jedem dieser Lieder wählte Jagiellos Team ein Gegenstück aus – einen Song, der von Tempo, Melodie, Harmonie und Gesang her ähnlich klang, aber den Teilnehmern unbekannt war.
Eine Sache von Millisekunden
Im entscheidenden Experiment spielten die Wissenschaftler den Studienteilnehmern dann im Wechsel weniger als eine Sekunde lange Ausschnitte der bekannten und unbekannten Lieder vor. Dabei beobachteten sie mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG), wie das Gehirn auf diese Musikschnipsel reagierte. Außerdem maßen sie die Erweiterung der Pupillen, die als Zeichen von Erregung gilt.
Die Ergebnisse offenbarten: Das Denkorgan erkannte vertraute Lieder überraschend schnell. Es brauchte nur 100 bis 300 Millisekunden, um einen Musikausschnitt als bekannt einzuordnen. Dies zeigte sich zum einen an einer deutlichen Pupillenreaktion. Zum anderen stellten Jagiello und seine Kollegen eine Aktivierung kortikaler Hirnregionen fest, die am Abrufen von Erinnerungen beteiligt sind.
Nutzen für die Therapie
„Unsere Ergebnisse belegen, dass vertraute Musik bemerkenswert rasch erkannt wird. Dies deutet auf einen schnellen temporalen Schaltkreis hin und untermauert, wie tief solche Musikstücke in unserem Gedächtnis verankert sind“, sagt Jagiellos Kollegin Maria Chait. Die Wissenschaftler vermuten, dass diese besondere Reaktion auf die Musik auch mit den positiven Emotionen zu tun hat, die damit verbunden sind.
Nach Ansicht des Teams sind die Ergebnisse womöglich auch für therapeutische Ansätze relevant: „Zu verstehen, wie das Gehirn vertraute Melodien erkennt, kann für die Musiktherapie sehr nützlich sein. Zum Beispiel gibt es ein zunehmendes Interesse daran, über Musik zu Menschen mit Demenz vorzudringen. Denn die Erinnerung an Musik bleibt bei Betroffen oft erstaunlich lange erhalten“, erklärt Chait.
Die neuronalen Prozesse zu identifizieren, die das Wiedererkennen von Musik ermöglichen, könnten demnach dabei helfen, dieses und andere Phänomene besser zu verstehen. (Scientific Reports, 2019; doi: 10.1038/s41598-019-51759-9)
Quelle: University College London