Markantes Merkmal: Die Hörner von Dungkäfern und ihren Verwandten haben einen überraschenden Ursprung. Sie gehen teilweise auf dieselben Gene zurück, die auch für die Entwicklung der Flügel zuständig sind. Ohne diese Flügel-Gene können die Insekten keine Hörner ausbilden, wie Experimente enthüllen. Diese Erkenntnis stellt eine gängige Definition von Neuartigkeit in der Evolution in Frage.
Ob Dungkäfer oder Nashornkäfer: Etliche Käfer aus der Familie der Scarabaeidae sind mit hornartigen Strukturen bewehrt. Vor allem unter den Männchen sind diese Waffen weit verbreitet. Sie dienen der Verteidigung und werden oft im Kampf gegen Rivalen bei der Partnersuche eingesetzt. Die markanten Hörner dieser Insekten gelten als typisches Beispiel für ein im Laufe der Evolution neu entstandenes Merkmal. Sie scheinen sich quasi aus dem Nichts heraus entwickelt zu haben und mit keiner anderen bekannten Körperstruktur in Verbindung zu stehen.
Der gängigen Auffassung nach unterscheiden sich die Hörner damit deutlich etwa von den Brustflossen der Delfine. Denn bei ihnen handelt es sich um modifizierte Vordergliedmaßen, die es in anderer Form bereits zuvor gegeben hat. Doch nun zeigt sich: Auch die Käferhörner sind nicht so „neu“ wie gedacht. Sie sind ebenfalls aus Anlagen für andere Körperteile hervorgegangen – den Flügeln.
Aus Horn wird Flügel
Zu dieser überraschenden Erkenntnis sind nun Forscher um Yonggang Hu von Indiana University in Bloomington gelangt. Für ihre Studie hatten sie die Entwicklung von drei Scarabaeidae-Spezies untersucht. Dabei schalteten sie bei den Larven und Puppen von Onthophagus binodis, O. sagittarius und O. taurus die Expression unterschiedlicher Gene aus, die für die Ausbildung der Flügel verantwortlich sind.
Erstaunlicherweise zeigte sich, dass die Käfer durch diese Eingriffe nicht nur fehlgebildete oder gar keine Flügel entwickelten. Auch die Hörner am vordersten Brustbereich der Insekten bildeten sich nicht normal aus. Demnach initiiert eine Reihe von Flügelgenen auch die Entwicklung dieser besonderen Waffe der Käfer. Erst in späteren Stadien werden dann zusätzliche Gene aktiv, die die genaue Struktur und Position der Hörner bestimmen.
Interessanterweise konnten die Wissenschaftler die Hörner durch bestimmte Manipulationen sogar in Flügel verwandeln. Dort, wo eigentlich dieses Körperteil sitzen sollte, entstanden dann zusätzliche flügelartige Strukturen.
Gemeinsamer Ursprung
Diese Beobachtungen legen nahe: Die Hörner und Flügel der Käfer haben einen gemeinsamen genetischen Ursprung. Dieses Gennetzwerk steuert demnach die Entwicklung der Strukturen an allen drei Segmenten des Brustbereichs der Insekten. Während die hinteren beiden Segmente mit Flügeln ausgestattet sind, hat der sogenannte Protothorax bei den Scarabaeidae-Käfern Hörner.
Bei anderen Insekten sitzen dort ebenfalls markante Strukturen, wie die Forscher berichten – vom Helm der Zikaden bis hin zum Halsschild der Wanzen. „Wir nennen das erste Thoraxsegment einen ‚Hotspot‘ morphologischer Innovationen bei Insekten“, erklärt Hus Kollege Armin Moczek. „Unsere Arbeit deutet nun darauf hin, dass all diese Vielfalt, all diese Neuheiten, tatsächlich durch ein einziges Gennetzwerk ermöglicht werden, das vor Millionen von Jahren für die Bildung der Flügel an anderen Körpersegmenten genutzt wurde.“
Was ist evolutionär neu?
Diese Erkenntnis wirft nach Ansicht der Wissenschaftler spannende neue Fragen auf: Was war die ursprüngliche Funktion dessen, was nun als Flügel-Gennetzwerk bekannt ist? War es zunächst speziell für die Bildung der Flügel zuständig oder womöglich doch für diverse Auswüchse an Thorax und Abdomen?
Darüber hinaus müsse die Biologie nun über die Definition von morphologischer Neuheit in der Evolution nachdenken, sagen die Forscher. Denn aktuell gilt die fehlende Verwandtschaft zu anderen Strukturen als Voraussetzung dafür – demnach wären die Hörner am Protothorax keine evolutionäre Novität. „Eine alternative Sicht ist: Unsere Ergebnisse illustrieren, wie Neuartigkeit auch aus einer solchen Verwandtschaft heraus entstehen kann“, erklären die Wissenschaftler. Dann müssten die Lehrbücher umgeschrieben werden. (Science, 2019; doi: 10.1126/science.aaw2980)
Quelle: AAAS/ Indiana University