Neuer Blick auf eine historische Katastrophe: Das berüchtigte Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 war vermutlich schwächer als bislang gedacht. Denn neuen Analysen zufolge lag die Magnitude dieses zerstörerischen Seebebens „nur“ bei 7,7 – bislang schätzte man seine Stärke auf 8,5 oder sogar 9,0. Die Daten liefern auch Hinweise darauf, warum die Erdstöße trotzdem einen enormen Tsunami und so extreme Schäden verursachten.
Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 ist eine der folgenschwersten und berühmtesten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. Am 1. November – dem katholischen Feiertag Allerheiligen – erschütterte erst ein schweres Beben die portugiesische Stadt am Tejo, dann folgte ein Tsunami mit bis zu 20 Meter hohen Flutwellen. Zusammen mit den in der Stadt ausbrechenden Bränden führte diese Katastrophe zur Zerstörung großer Teile der Stadt, mehrere zehntausend Menschen starben.
Doch trotz der weitreichenden Bedeutung des Erdbebens von Lissabon ist bis heute nur wenig darüber bekannt, wo und wie genau es zu dieser Katastrophe kam. Auch zur Stärke des Bebens gehen die Schätzungen auseinander – die Spanne reicht von Magnitude 8,3 bis 9,0. Klar scheint nur, dass das Epizentrum südwestlich der Iberischen Halbinsel gelegen haben muss – in einem ausgedehnten Bereich, in die Europäische und Afrikanische Platte aufeinandertreffen.
Spurensuche in historischen und seismischen Daten
Deshalb hat nun Joao Fonseca von der Universität Lissabon einen neuen Versuch unternommen, die Stärke und den Herd des historischen Bebens näher einzugrenzen. Für seine Studie nutzte er zum einen Daten einer historischen Schadenserhebung, die der erste Marquis von Pombal schon kurz nach der Katastrophe in ganz Portugal und in Spanien durchführen ließ. Sie liefert bis heute die wichtigsten Informationen zur Intensität des Erdbebens und erlaubt indirekt eine Abschätzung der Magnitude.
Ergänzend wertete Fonseca seismologische Messdaten eines Seebebens im Jahr 1969 aus, dessen Epizentrum im gleichen Gebiet wie der vermutete Herd des Lissabon-Bebens liegen könnte. Dieses Beben erreichte eine Magnitude von 7,8, verursachte aber nur einen sehr schwachen Tsunami. Mithilfe eines tektonisch-seismologischen Modells auf Basis all dieser Daten gelang es Fonseca, zumindest einige Aspekte des Lissabon-Bebens zu rekonstruieren.
Zwei Folgebeben als Ausreißer
Das Ergebnis: Entgegen bisherigen Schätzungen war das Lissabon-Beben offenbar signifikant schwächer als bisher angenommen. Es hatte wahrscheinlich „nur“ eine Magnitude von gut 7,7, wie Fonseca berichtet. Die Ursache der früheren Fehleinschätzungen sieht er in zwei Ausreißern der historischen Bebendaten. Denn es gab damals neben Lissabon und Umgebung zwei weitere Gebiete mit auffallend schweren Schäden – eines war die Algarve und eines das nördlich von Lissabon gelegene Targus-Tal.
„In diesen Gebieten konzentrieren sich sogar die höchsten Intensitäten des gesamten Datensatzes“, berichtet der Forscher. Aber warum? Fonsecas Analysen zufolge lassen sich diese Schadensschwerpunkte weder durch eine besondere Bodenbeschaffenheit noch durch sonstige Nebeneffekte des Lissabon-Bebens erklären. Stattdessen sprechen die Daten dafür, dass diese beiden Orte von zwei lokalen Erdbeben getroffen wurden. Diese ereigneten sich nur wenige Minuten nach dem Beben von Lissabon und wurden höchstwahrscheinlich von diesem ausgelöst, wie der Forscher erklärt.
Sekundärer Bruch bis in Stadtnähe
Doch wo lag das Epizentrum des Lissabon-Bebens? Auch dieser Frage ist Fonseca nachgegangen. Auf Basis seiner Daten lokalisiert er den Bebenherd im gleichen Gebiet wie beim Erdbeben von 1969 – etwa 210 Kilometer südwestlich der Iberischen Halbinsel. Dort hat die Plattentektonik mehrere von Südwesten nach Nordosten verlaufende Verwerfungen erzeugt.
Doch im Unterschied zum späteren Beben war beim Lissabon-Beben von 1755 eine sekundäre Verwerfung beteiligt, die bis unmittelbar an die Stadt heranreichte, wie der Forscher erklärt. Dies hat auch Konsequenzen für die Einschätzung des Bebenrisikos der Region: „Während die offiziellen Karten das höchste Gefahrenpotenzial im Süden Portugals sehen und nach Norden abfallend, konzentriert meine neue Interpretation das Risiko in der Umgebung von Lissabon“, sagt Fonseca.
Sedimentkeil und komplexe Tektonik verstärkten Tsunami
Das extreme Ausmaß des 1755 erzeugten Tsunamis führt der Wissenschaftler auf die Beschaffenheit des Meeresgrunds im Bereich des Epizentrums und des aufreißenden Bruchs der Verwerfung zurück: „Modellergebnisse deuten darauf hin, dass eine zehnfache Verstärkung der Tsunami-Amplitude auftreten kann, wenn zehn Prozent der Momentmagnitude in Sedimenten freigesetzt werden“, erklärt Fonseca.
Den geologischen Analysen zufolge liegt eine solcher Sedimentkeil vor dem Golf von Cadiz – unmittelbar östlich der bebenauslösenden Verwerfung. Fonseca vermutet, dass dieser Keil wie ein Verstärker wirkte. Zusätzlich könnte auch die ungewöhnlich lange Dauer der rund acht Minuten anhaltenden Erdstöße den Tsunami verstärkt haben. (Bulletin of the Seismological Society of America, 2020; doi: 10.1785/0120190198)
Quelle: Seismological Society of America