Medizin

Stromreize am Ohr beeinflussen die Verdauung

Stimulation über den Vagusnerv kann die Aktivität des Magens steuern

Verdauungstrakt
Die Tätigkeit des Verdauungstrakts lässt sich durch Hirnstimulation beeinflussen. © PALMIHELP/ iStock.com

Verblüffender Effekt: Über schwache Stromreize am Ohr lässt sich offenbar die Verdauung beeinflussen. Denn der Strom reizt einen dort verlaufenden Ast des Vagusnervs und beeinflusst auf diese Weise die Aktivität des Magens, wie eine Studie nahelegt. Demnach könnte über diese mit dem Hirnstamm verbundene Nervenbahn die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin gefördert werden – als Folge wird dann die Verdauung gebremst. Diese Erkenntnisse liefern womöglich auch neue Ansätze für die Therapie von Essstörungen.

Der Vagusnerv ist eine große Nervenbahn, die von der Basis des Gehirns bis in den Magen-Darm-Trakt verläuft. Als größter Nerv des Parasympathikus ist er an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. Er bildet dabei eine wichtige Kommunikationsachse zwischen Körper und Gehirn und beeinflusst unter anderem Dinge wie die Verdauung und unser Sättigungsgefühl. Sogar auf unsere Psyche kann sich der Vagusnerv auswirken.

Von der Stimulation dieser Nervenbahn erhoffen sich Mediziner daher zahlreiche Effekte: Sie wollen über den Vagusnerv zum Beispiel die Stimmung depressiver Patienten verbessern oder altersbedingte Ungleichgewichte im vegetativen Nervensystem ausgleichen. Der Clou: Dies ist ohne aufwändige Elektrodenkappen oder implantierte Geräte möglich. Denn der Vagusnerv lässt sich bereits durch einen geringen Stromfluss am Ohr anregen.

Magenbewegung im Blick

Mithilfe dieses elektrischen „Ohrenkitzelns“ haben Vanessa Teckentrup von der Universität Tübingen und ihre Kollegen nun versucht, die Aktivität des Magens zu beeinflussen. Dabei stimulierten sie einen Ast des Vagusnervs, der bis in den Hirnstamm führt. Für die Studie wurden 22 gesunde Erwachsene entweder Stromreizen ausgesetzt oder sie erhielten nur scheinbar eine Hirnstimulation.

Vor und nach diesen jeweils 30-minütigen Sitzungen kontrollierten die Wissenschaftler den Grundumsatz an Energie und die Verdauungstätigkeit des Magens. Letztere lässt sich durch elektrische Signale an der Haut messen, die von sogenannten Schrittmacherzellen erzeugt werden. Diese Zellen des Magen-Darm-Trakts geben vor, in welcher Frequenz sich der Magen zusammenzieht: Muss Nahrung verdaut werden, kurbeln sie seine Bewegung an. Wird die Verdauung hingegen nicht benötigt, verlangsamen sie die Frequenz, um Ressourcen für andere Prozesse freizugeben.

Dopamin als Auslöser?

Wie würden sich die Stromreize am Ohr auswirken? Die Auswertungen offenbarten: Tatsächlich veränderte sich durch die Stimulation des Vagusnervs die Aktivität der Schrittmacherzellen – die Forscher stellten eine deutliche Verlangsamung fest. Dies bedeutet, dass der Stromfluss die Bewegungen des Magens und damit die Verdauung bremste. Auf den Grundumsatz hatte die Stimulation dagegen keinen akuten Einfluss. Womöglich könnten sich hier aber über einen längeren Zeitraum ebenfalls Veränderungen einstellen, so die Vermutung des Teams.

Der Effekt der Vagusnerv-Stimulation auf die Magentätigkeit könnte nach Ansicht von Teckentrup und ihren Kollegen durch den Botenstoff Dopamin zustande kommen. Demnach werden die elektrischen Reize über den Vagusnerv bis zum Hirnstamm weitergeleitet und führen dort zu einer vermehrten Ausschüttung dieses Neurotransmitters.

Potenzial für Therapien

„Studien zeigen, dass erhöhte Dopamin-Konzentrationen im Hirnstamm zu einer geringeren Nahrungsaufnahme und zur Entspannung des Magens führen“, erklären die Wissenschaftler ihren Verdacht. Bei Patienten, denen die den Magen versorgenden Äste des Vagusnervs durchtrennt wurden, kann die Gabe dieses Botenstoffs zudem die Normalisierung der Magenbewegungen fördern.

Alles in allem legen die Ergebnisse nahe: Über simples Ohrenkitzeln lässt sich die Aktivität unseres Magens gezielt beeinflussen. Bestätigen weitere Untersuchungen die neuen Erkenntnisse, könnten mit dieser Methode in Zukunft nicht nur Verdauungsprobleme behandelt werden. Die Forscher sehen auch enormes Potenzial für die Therapie von Essstörungen oder Depressionen.

Ernährung und Stimmung

Betroffene solcher psychischen Leiden nehmen körpereigene Signale – zum Beispiel aus dem Magen – oft nicht richtig wahr. Die Stimulation des Vagusnerv könnte daher ein Ansatzpunkt für Therapien sein und nicht nur das Essverhalten, sondern auch die Stimmung beeinflussen. „Patienten zeigen in den Symptomen oft eine enge Verknüpfung aus Ernährung, Energiestoffwechsel und Stimmung“, erklärt das Team in einer Mitteilung. (Brain Stimulation, 2020; doi: 10.1016/j.brs.2019.12.018)

Quelle: Universitätsklinikum Tübingen

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