Auf den ersten Blick ist unsere Milchstraße eine ganz normale Balkenspirale: Ihre gewölbte Mitte, der sogenannte Bulge, ist seitlich zu einem länglichen Balken ausgezogen, von dessen Enden vier große Spiralarme ausgehen. Die Arme liegen alle in einer gemeinsamen Ebene, die rund 3.000 Lichtjahre dick ist. Sie enthält einen Großteil der rund 100 bis 300 Milliarden Sterne unserer Galaxie. Die gesamte Scheibe der Milchstraße hat einen Durchmesser von rund 100.000 Lichtjahren. So weit, so bekannt.
Verbeult statt eben
Doch schon diese offensichtlichen Merkmale bergen Überraschungen. Jahrhundertelang glaubten Astronomen, dass die Hauptebene der Milchstraße eine flache Scheibe bildet – ähnlich wie die Andromedagalaxie und andere Spiralgalaxien in unserer komischen Nachbarschaft. Doch Anfang 2019 enthüllten Daten des europäischen Gaia-Weltraumteleskops, dass dies ein Irrtum ist. Denn eine ganze Reihe von veränderlichen Sternen, sogenannte Cepheiden, liegen nicht dort, wo sie sein müssten.
Stattdessen deutet die Position dieser Sterne darauf hin, dass unsere Galaxie verbeult ist: Einige Teile ihrer Hauptebene sind nach oben gebogen, andere nach unten. Diese Biegung ist in den Außenbereichen am stärksten. Würde man sie von der Seite betrachten, ähnelte die Milchstraße dadurch einem leicht gewellten „S“. Damit weicht unsere Galaxie deutlich von der typischen Form anderer Spiralgalaxien ab. Warum, ist bislang noch ungeklärt. Möglich wären sowohl frühere Kollisionen als auch Wechselwirkungen mit Dunkler Materie oder intergalaktischen Gasen.
Schein-Spiralen und eine gigantische Welle
Auch die Spiralarme unserer Galaxie sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Dem ersten Anschein nach handelt es sich bei ihnen um feste Gebilde, die sich mitsamt ihrer Gase, Sterne und Sternenwiegen um das Milchstraßenzentrum bewegen. Doch neueren Daten zufolge könnte es sich stattdessen um Dichtewellen handeln – gasreiche Zonen besonders intensiver Sternbildung, die unabhängig von den bestehenden Sternenpopulationen um das Galaxienzentrum kreisen. Die Spiralarme wandern gleichsam durch die Sterne hindurch.
Ebenfalls anders als gedacht ist eine auffällige Ansammlung von Sternenwiegen und Gas in unserer galaktischen Nachbarschaft. Sie bilden einen großen Bogen am Nachthimmel und scheinen das Sonnensystem in einem gürtelförmigen Ring zu umgeben. Doch Anfang 2020 enthüllten Daten des Gaia-Weltraumteleskops, dass dieser Gouldsche Gürtel in Wirklichkeit Teil einer gigantischen wellenförmigen Struktur unserer Galaxie ist. Diese „Radcliffe-Welle“ ist rund 9.000 Lichtjahre lang und windet sich durch die Hauptebene der Milchstraße hindurch. Dabei ragt sie beiderseits um je 500 Lichtjahre aus der Sternenscheibe hinaus.
„Wir waren geradezu schockiert, als uns klar wurde, wie lang und gerade die Radcliffe-Welle ist“, sagt Alyssa Goodman von der Harvard University. „Kein Astronom hat erwartet, dass wir neben einer so gigantischen wellenartigen Ansammlung von Gas leben.“ Denn die Radcliffe-Welle liegt an ihrem nächsten Punkt nur rund 500 Lichtjahre von der Sonne entfernt und füllt einen Großteil des Orionarms aus – unseres Heimatarms.
Der Weg unserer Sonne
Unsere Sonne liegt zurzeit am inneren Rand dieses kleinen Nebenarms der Milchstraße – rund 26.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt. Doch das war nicht immer so, wie Forscher kürzlich herausfanden. Denn der Ort ihrer Geburt liegt rund 2.000 Lichtjahre näher am Milchstraßenzentrum als ihre heutige Position. Ähnlich wie viele andere ältere Sterne ist die Sonne im Laufe der Zeit nach außen gedriftet.
Und auch heute steht unsere Sonne nicht still, sondern umkreist zusammen mit allen anderen Sternen das Zentrum der Milchstraße. Für einen solchen Umlauf nötigt sie dabei rund 220 bis 240 Millionen Jahre. Dabei bewegt sich unser Stern in Wellen durch die Milchstraßen-Scheibe hindurch und kreuzt sie alle 30 bis 45 Millionen Jahre. Zurzeit befindet sich unsere Sonne auf dem aufsteigenden Ast eines ihrer Wellenbögen. Sie liegt dadurch rund 65 Lichtjahre oberhalb der Hauptebene.
Lange vermuteten Astronomen, dass diese Kreuzungen verstärkte Schwerkraftturbulenzen im Sonnensystem auslösen und dadurch zu periodisch vermehrten Einschlägen von Asteroiden und Kometen auf der Erde führen. Doch 2017 wiesen Forscher nach, dass es eine solche Periodizität wahrscheinlich nicht gibt.