Medizin

Coronavirus: Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Sechs von sieben Covid-Fällen könnten unerkannt bleiben

SARS-CoV-2
Die Dunkelziffer der Coronavirus-Infektionen könnte nach neuen Schätzungen bei bis zu 80 Prozent liegen. © NIAID

Spitze des Eisbergs: Weltweit könnten schon bis zu einer Million Menschen mit dem Coronavirus infiziert sein – denn nach Schätzung von Medizinern bleibt ein Großteil der Infektionen unerkannt. Im Extremfall könnten sogar sechs von sieben Infektionen verborgen bleiben. Doch gerade diese Fälle mit milden oder keinen Symptomen waren in China für zwei Drittel der ersten Ansteckungen verantwortlich, wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten.

Weltweit breitet sich das Coronavirus SARS-CoV-2 weiter aus – teilweise mit fast exponentiell steigenden Fallzahlen. Entsprechend fieberhaft suchen Epidemiologen und Behörden nach den besten Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Neben der Quarantäne von Verdachtsfällen, der sozialen Distanzierung und dem weitgehenden Stilllegen des öffentlichen Lebens gelten vor allem möglichst weitreichende Virentests als Mittel der Wahl.

Das Problem der Tests

Das Problem jedoch: Bisher werden in den meisten Ländern nur die Menschen auf SARS-CoV-2 getestet, die schwere Symptome zeigen oder die in direktem Kontakt mit einem schon bestätigten Fall standen. Wer keine oder milde Erkältungssymptome zeigt, bleibt in der Regel ungetestet – auch weil es vielerorts an ausreichenden und schnellen Tests mangelt. Diese Praxis gilt zurzeit auch in Deutschland.

Doch genau hier liegt das Problem, wie nun die Studie eines internationalen Forscherteams aufzeigt. In ihr hatten Ruiyun Li vom Imperial College London und seine Kollegen die Entwicklung der Fallzahlen und der Infektionsketten im Januar 2020 in Wuhan untersucht – der Zeit unmittelbar vor der Einführung von Reisebeschränkungen im chinesischen Ausbruchsgebiet.

86 Prozent unerkannt

Die Analysen ergaben: Gerade in der Anfangszeit der Epidemie blieben rund 86 Prozent der Covid-19-Fälle unentdeckt. Doch gerade diese undokumentierten Infektionen waren für rund zwei Drittel der diagnostizierten Fälle verantwortlich. „Die Explosion der Covid-19-Fälle in China geht zum großen Teil auf Menschen zurück, die nur milde oder gar keine Symptome hatten und daher unerkannt blieben“, erklärt Koautor Jeffrey Shaman von der Columbia University in New York.

Genau dies könnte sich zurzeit auch in anderen Ländern abspielen – und die rasant steigenden Fallzahlen beispielsweise in Italien, aber auch in Deutschland erklären. „Wenn man sich momentan die meisten anderen Gesellschaften weltweit anschaut, sind sie etwa auf dem Stand, wie er vor Einführung der Reisebeschränkungen in China vorlag“, erklärt Sharan.

Global bis zu einer Million Menschen infiziert

Das aber bedeutet: Die Dunkelziffer für unentdeckte Coronavirus-Infektionen könnte nach Schätzungen der Forscher weltweit bei sechs von sieben Fällen liegen. „Wenn man dies auf 150.000 diagnostizierte Covid-Fälle weltweit überträgt, dann könnte die wahre Zahl der Infektionen näher bei einer Million liegen“, sagt Shaman. „Im Allgemeinen kann man von etwa einer Größenordnung mehr Fällen ausgehen als bisher bestätigt worden sind.“

„Ich denke, wir sehen momentan nur die Spitze des Eisbergs“, so Shaman. Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann allerdings je nach Land und Region variieren abhängig davon, wie intensiv auf SARS-CoV-2 getestet wird. So wurden die Virentests in China nach dem ersten Anstieg der Fallzahlen stark intensiviert. „Dadurch stieg der Anteil der dokumentierten Fälle auf 60 Prozent „, berichtet Shaman. Ähnlich sei es in Südkorea gewesen – dort hat sich unter anderem dadurch die Ausbreitung des Virus stark verlangsamt.

Auch milde Fälle sind ansteckend

Das Problem dabei: Den Daten der Forscher zufolge treiben gerade die unerkannten Infektionen die Epidemie voran. Denn die beobachtete Ausbreitung des Virus ließ sich in einem Modell nur dann rekonstruieren, wenn man von einer Übertagung auch durch symptomfreie, unerkannte Träger ausging, wie die Wissenschaftler berichten. Ihren Berechnungen zufolge ist eine infizierte, aber asymptomatische Person trotzdem noch etwa halb so ansteckend wie ein Patient mit schweren Covid-Symptomen.

Anders ausgedrückt: Bislang gehen Epidemiologen von einer Übertragungsrate von etwa 2,5 aus – ein Covid-Patient steckt demnach im Schnitt zweieinhalb weitere Menschen an, wenn er nicht in Quarantäne ist. Ein symptomfreier Virenträger kann dagegen das Coronavirus auf immerhin noch ein bis zwei andere Personen übertragen, ohne dass er selbst es merkt.

Umfangreiches Testen wäre gerade am Anfang wichtig

Nach Ansicht der Wissenschaftler ist es daher gerade in einem frühen Stadium der Epidemie besonders wichtig, möglichst breit zu testen – auch Verdachtsfälle ohne klare Symptome. „Das hilft dabei, das Ausmaß des Problems schneller zu erkennen und damit auch die Notwendigkeit verschiedener Maßnahmen wie der Quarantäne, der sozialen Distanzierung und anderen“, sagt Shaman.

Gibt es jedoch schon so viele schwere Fälle, dass die Krankenhäuser überlastet sind – wie in Italien der Fall, ist es dafür schon zu spät. „Dann wird ein so umfangreiches Testen meist kaum mehr machbar sein“, so der Forscher. Dann komme es vor allem darauf an, die Übertragung des Virus so weit wie möglich zu erschweren, durch Reisebeschränkungen und die weitgehende Vermeidung von direkten Kontakten.

Fünftes Coronavirus in unserer Population

Ob diese inzwischen in vielen Ländern getroffenen Maßnahmen allerdings ausreichen werden, um die Pandemie zu stoppen, ist fraglich. „Ein erhöhtes Risikobewusstsein, Schutzmaßnahmen und Reisebeschränkungen haben zwar schon dazu beitragen, die Infektionsausbreitung zu bremsen“, sagt Shaman. „Aber wenn das neue Coronavirus dem Muster der H1N1-Influenza folgt, dann wird es sich global ausbreiten und zum fünften bekannten Coronavirus in der menschlichen Population werden.“ (Science, 2020; doi: 10.1126/science.abb3221)

Alle Informationen rund um die Coronavirus-Pandemie haben wir für Sie in unserem Themenspecial zusammengefasst.

Quelle: Columbia University, American Association für the Advancement of Science

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