Spannender Fund: In Südaustralien könnten Forscher den Urahn aller Bilateria entdeckt haben – der Organismengruppe, zu der fast alle Tiere vom Regenwurm über Insekten bis zu den Säugetieren gehören. Das nur reiskorngroße Wesen lebte vor 555 Millionen Jahren und hinterließ zahlreiche winzige Wühlgänge im Sediment. Es konnte sich demnach schon gerichtet fortbewegen und besaß auch Mund, Darm und After.
Ob Regenwurm, Insekt, Schildkröte oder Mensch – die meisten heutigen Tiere sind bilateralsymmetrisch. Sie besitzen ein Vorder- und Hinterende und eine symmetrische rechte und linke Seite. Typisch sind zudem ein Mund, der über ein durchgehendes Verdauungsorgan mit einem After verbunden ist sowie die Fähigkeit, sich gerichtet fortzubewegen. Dieser Grundbauplan ist allen Bilateria gemeinsam und findet sich daher in nahezu allen Großgruppen des Tierreichs außer den Schwämmen, Rippenquallen und Nesseltieren.
Rätsel um den ersten „Zweiseiter“
Doch wie sah der Urahn aller Bilateria aus? Und wann lebte er? Weil im Kambrium vor gut 500 Millionen Jahren schon viele Urformen von Spinnentieren, Insekten, Krebsen und sogar Chordatieren existierten, muss der gemeinsame Vorfahr dieser bilateralsymmetrischen Tiergruppen schon früher gelebt haben. Doch das Zeitalter davor, das Ediacarium, wurde von einer bizarren Tierwelt bevölkert, die kaum Ähnlichkeit mit heutigen Bauplänen besaß.
Das weckt die Frage, woher zu Beginn des Kambriums so plötzlich die ersten Varianten von bilateralsymmetrischen Tieren herkamen. Einen Hinweis darauf liefern winzige, wenige Millimeter breite Wühlgänge, die Paläontologen in rund 550 bis 560 Millionen Jahre alten Ablagerungen entdeckt haben. Die Form dieser Helminthoidichnites genannten Gänge und v-förmige Abdrücke darin sprechen dafür, dass sie von einem frühen Vertreter der Bilateria stammen könnten.
Reiskorngroßes Wurmwesen
Doch erst jetzt haben Forscher Fossilien des Tieres aufgespürt, das diese Spuren hinterließ. Scott Evans von der University of California in Riverside machten den Fund, als sie die winzigen Wühlgänge in einer 555 Millionen Jahre alten Gesteinsformation in Südaustralien mit einem hochauflösenden Lasercanner untersuchten. „Sobald wir die 3D-Scans hatten, wurde uns klar, dass wir eine wichtige Entdeckung gemacht hatten“, sagt Evans.
Die Scans enthüllten am Ende einiger Gänge winzige, längliche Gebilde, die mit zwei bis sieben Millimetern Länge und bis zweieinhalb Millimeter Durchmesser in etwa die Größe eines Reiskorns hatten. Nähere Analysen ergaben, dass diese Fossilien zweiseitig symmetrisch und leicht abgeplattet waren und zudem ein etwas dickeres Vorderende und ein dünneres Hinterende besaßen. Aus den Scans und Kriechspuren in den Gängen schließen die Forscher zudem, dass dieses Wesen sich durch Muskelkontraktionen fortbewegte – und dabei die Helminthoidichnites-Gänge hinterließ.
Urahn aller Bilateria?
Nach Ansicht von Evans und seinen Kollegen könnte es sich bei diesem Fossil um den lange gesuchten Erschaffer der Wühlgänge handeln – und um den ältesten bekannten Vertreter der Bilateria. Sie gaben dieser neuen Gattung und Art den Namen Ikaria wariootia. Zwar sind nicht alle Körpermerkmale dieses Urtiers erhalten, die Forscher vermuten aber, dass Ikaria bereits einen Mund, After und einen durchgehenden Verdauungstrakt besaß.
Das sei genau das, was Evolutionsbiologen für den letzten gemeinsamen Vorfahren der Bilateria vorhergesagt hätten. „Kombiniert mit der relativen Körpergröße und den Spuren sind diese Merkmale einzigartig für Bilateria“, sagen Evans und seine Kollegen. Vermutlich besaß dieses winzige Urtier sogar schon einfache Sinnesorgane, mit denen es organisches Material in seiner Umgebung oder Gefahren durch giftige Ablagerungen erspüren konnte.
Sollte sich die Einstufung der Forscher bestätigen, könnte Ikaria der früheste Vorfahre der meisten heutigen Tiere gewesen sein – inklusive des Menschen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.2001045117)
Quelle: University of California – Riverside