Viren haben keinen guten Ruf – schon gar nicht in Zeiten einer Pandemie. Wir neigen dazu sie primär als unsichtbare Feinde, als Krankheitserreger und Seuchenbringer zu sehen. Doch es gibt noch eine andere Seite unserer viralen Mitbewohner: Ihre Existenz könnte die Evolution des Lebens vorangetrieben und vielleicht sogar erst ermöglicht haben.
So groß wie ein Bakterium
Einen Hinweis darauf liefert die Entdeckung der Riesenviren – Viren, die kaum kleiner sind als manche Bakterien. Die in Amöben gefundenen Pandoraviren und Megaviren erreichen beispielsweise einen Durchmesser von rund 700 Nanometern und sind damit mehr als doppelt so groß wie Bakterien aus der Gruppe der Chlamydien. Und nicht nur das: Sowohl sie als auch das 2017 in einem österreichischen Klärwerk entdeckte Klosneuvirus besitzen ein riesiges Genom. Beim Klosneuvirus ist es 1,54 Millionen Basen lang – das ist fast dreimal so lang wie das des bakteriellen Erregers Mycoplasma genitalium.
Noch ungewöhnlicher aber ist das, was im Erbgut dieser Riesenviren kodiert ist. Denn ihre DNA enthält nicht nur die Bauanleitung für neue Viren, sondern auch Gene für die Proteinbiosynthese – den Prozess, durch den Zellen die Moleküle für ihren Stoffwechsel und ihre Vermehrung herstellen. Diese Viren besitzen damit zumindest den Gencode für einen Großteil dieser Zellmaschinerie.
Viren in der Ursuppe?
Doch woher kommen diese Gene? Theoretisch gibt es dafür zwei Möglichkeiten: Zum einen könnten diese und andere Viren aus frühen Einzellern hervorgegangen sein, die sich zurückentwickelten. Dass würde bedeuten, dass Viren und alle zelltragenden Lebewesen einen gemeinsamen Ursprung haben. Weil dann die Virenvorläufer zu obligatorischen Zellparasiten wurden, bildeten sie alle Komponenten zurück, die sie nicht mehr benötigten – darunter auch die Zellmaschinerie.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die simple Konstruktion der Viren am Anfang allen Lebens stand. Schon länger vermuten viele Forscher, dass die ersten zellähnlichen Strukturen in der „Ursuppe“ RNA statt DNA als Erbgutmolekül nutzten. Das könnte bedeuten, dass sich die ersten Organismen vielleicht aus Vorfahren der heutigen RNA-Viren entwickelt haben.
Lieferanten neuer Gene
Doch auch im späteren Verlauf der Evolution könnten Viren eine wichtige Rolle gespielt haben. Denn viele von ihnen besitzen die Fähigkeit, ihr Erbgut in das ihrer Wirtszellen einzuschleusen. Manchmal bleiben Teile dieser viralen Gene erhalten und vererben sich sogar an die Nachkommen weiter – vor allem, wenn sich diese Sequenzen als nützlich erweisen. Erst kürzlich entdeckten Forscher um Arshan Nasir von der University of Illinois, dass sich Proteinstrukturen viralen Ursprungs in nahezu allen Domänen des Lebens finden – von Bakterien bis zu eukaryotischen Pflanzen und Tieren.
Auch in unserem Erbgut finden sich virale Gensequenzen: Als Wissenschaftler im Jahr 2001 die erste Entschlüsselung des menschlichen Genoms vollendeten, fanden sie zu ihrem großen Erstaunen 600.000 Basenabfolgen im menschlichen Erbgut, die eindeutig viralen Ursprungs waren. Inzwischen ist klar, dass solche viralen DNA-Sequenzen rund 43 Prozent unseres gesamten Erbguts ausmachen – und teilweise lebenswichtige Funktionen übernehmen. So sind die viralen Gene unter anderem für die Entwicklung der Plazenta entscheidend, aber auch für die Hormonproduktion in den Nebennieren und Eierstöcken, den Schutz vor Krebs und für die Funktion von Muskeln und Gehirn.
„Wir sollten Viren daher als Quelle neuer Gene für zelluläre Organismen ansehen – und nicht bloß als Krankheitserreger“, so Nasir. Er und andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass Viren im Verlauf der gesamten Evolution Gene auf zelluläre Organismen übertragen haben – und dass ihnen dies zu neuen Fähigkeiten und Merkmalen verhalf. Gleichzeitig könnten Teile dieser viralen Sequenzen sogar auf den letzten gemeinsamen Vorfahren von Viren und Zellen zurückgehen.
Motor der Anpassung
Doch Viren haben auch indirekt die Entwicklung neuer Merkmale angeschoben, wie David Enard von der Stanford University im Jahr 2016 herausfanden. Sie hatten verglichen, wie schnell sich 10.000 evolutionär sehr alte Säugetier-Proteine im Laufe der Evolution verändert haben. Dabei zeigte sich:
Die Proteine, die mit der Virenabwehr oder anderen Formen der Vireninteraktion verknüpft sind, haben sich dreimal schneller und stärker verändert als die meisten anderen Proteine.
Aber nicht nur sie: „Viren scheinen für rund 30 Prozent aller Aminosäure-Veränderungen im urzeitlichen Anteil des menschlichen Proteoms verantwortlich zu sein“, berichtet Enard. „Das ist der erste Beleg für einen so starken Einfluss der Viren auf die Anpassung.“ Dabei prägt die Konfrontation mit viralen Erregern offenbar nicht nur unsere Immunabwehr, sondern auch tausende weitere Proteine, die auf den ersten Blick keinerlei Bezug zu Viren oder dem Immunsystem haben, wie die Forscher berichten.
Auch wenn Viren eine tödliche Gefahr für unsere Gesundheit sein können – ohne sie wäre das Leben auf unserem Planeten vermutlich um einiges ärmer.