Unterdrückte Wackler: Forscher haben herausgefunden, wie unser Sehsinn ein stabiles, ruhiges Bild erzeugt – obwohl sich die Augen ständig schnell bewegen. Demnach hat die Netzhaut selbst eine Art „Bildstabilisator“, der anhand der visuellen Reize erkennt, welche Wackelbilder er unterdrücken muss. Die Augenbewegungen selbst spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten.
Ohne dass wir es merken, findet in unseren Augen ständig eine Bildkorrektur statt. Denn ein spezielles System gleicht die schnellen Augenbewegungen aus, mit denen wir zwei bis drei Mal pro Sekunde unsere Umwelt abtasten. Erst diese unwillkürlichen Sakkaden sorgen dafür, dass wir ein scharfes Bild wahrnehmen. Dabei werden „verwackelte“ Bildpassagen unterdrückt, gleichzeitig sorgt ein raffiniertes Umschalten zwischen Neuronen dafür, dass wichtige Objekte im Fokus bleiben.
Wer steuert es? Die Augenbewegungen oder die Netzhaut?
Doch wo und wie findet diese sakkadische Unterdrückung statt? Bisher gab es dazu zwei Hypothesen: Die eine geht davon aus, dass dieser Effekt mit der Augenbewegung verknüpft ist: Die Nervensignale, die die Augenmuskeln kontrollieren, koordinieren auch die optische Unterdrückung der Bewegungseindrücke. Demnach müsste die Bildkorrektur der Sakkaden direkt von den Augenbewegungen abhängig sein.
Die zweite Hypothese sieht dies anders. Sie besagt, dass die Netzhaut diese selektive Reizunterdrückung verursacht. Demnach erkennt die Retina unabhängig von den Augenbewegungen, dass ihre Seheindrücke „verwackelt“ sind und korrigiert dies – ähnlich einem Bildstabilisator in einer Digitalkamera.
Unterdrückung hängt vom Seheindruck ab
Welche Hypothese zutrifft, haben Saad Idrees von der Universität Tübingen und seine Kollegen die Funktionsweise der sakkadischen Unterdrückung näher untersucht. In einem ersten Experiment sollten die Probanden auf grobe oder feine Texturen schauen und dabei einem sich sprunghaft und schnell bewegenden Markerpunkt folgen. Dies erzeugte steuerbare Sakkadenbewegungen ihrer Augen. Zu verschiedenen Zeiten blendeten die Forscher kurze Lichtpunkte ein, um zu ermitteln, wann die Suppression aktiv war.
Das Ergebnis: Tatsächlich gab es während der Sakkaden ein kurze „Blindheit“, deren Dauer von der Textur abhing: Je gröber das Muster, desto früher setzte die Unterdrückung ein und desto länger hielt sie an. „Dass die Stärke und die Länge der Unterdrückung von den abgebildeten Texturen abhängig waren, kann nur bedeuten, dass der Auslöser visueller Natur sein muss“, sagt Idrees‘ Kollege Ziad Hafed. „Die Suppression hängt eindeutig von den visuellen Bildern ab.“
Die Netzhaut hemmt die Signale
Aber wie? Um das herauszufinden, führten die Wissenschaftler elektrophysiologische Versuche mit der Netzhaut von Mäusen und Schweinen durch. Mittels Elektroden leiteten sie dabei die Signale ab, die die Sinneszellen abgaben, wenn eine kontrastreiche Textur schnell vor der Retina hin und her bewegt wurde. Statt der Augen vollführte dabei gewissermaßen die Textur die Sakkaden.
Die Messergebnisse bestätigten, dass die Netzhaut selbst das „Wackeln“ des Bilds korrigiert und die Reize aus der Bewegungsphase unterdrückt. „Die Netzhaut trägt also direkt zu unserem stabilen Seheindruck bei“, sagt Idrees‘ Kollege Thomas Münch. „Sie erkennt, dass die Welt vorbeirauscht, und reguliert die Empfindlichkeit für kurze Zeit herunter.“ Demnach geben die Ergebnisse in großen Teilen der zweiten Hypothese recht.
Augenbewegungen modulieren nur
Allerdings gibt es eine kleine Einschränkung: Als die Forscher ihre Probanden einem Gegentest unterzogen, bei der sich zwar die Textur bewegte, nicht aber die Augen, zeigten sich subtile Unterschiede zum vorherigen Versuch: Die sakkadische Unterdrückung war ohne Augenbewegungen länger als mit.
Die Wissenschaftler schließen daraus, dass die selektive „Ruckelkorrektur“ unseres Sehens zwar von der Netzhaut ausgeht und unabhängig von den Augenmuskeln und ihren Signalen entsteht. Aber die Augenbewegungen bewirken eine Art ergänzendes „Feintuning“, indem sie die Länge der Unterdrückung mitbeeinflussen. Damit könnten Hard und sein Team nun den Streit um den Mechanismus hinter der sakkadischen Unterdrückung beigelegt haben. (Nature Communications, 2020; doi: 10.1038/s41467-020-15890-w)
Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung