Sie kann sich noch an einen dunklen Schatten erinnern, der von links auf sie zukam. Dann ein ohrenbetäubender Knall. Andrea K. war mit ihrem Auto auf einer Landstraße unterwegs, als ihr ein anderer Wagen an einer unübersichtlichen Kreuzung die Vorfahrt nahm und gegen ihre Fahrerseite prallte.
Das ganze Leben in drei Sekunden
Die Frau kam von der Straße ab, durchbrach einen Weidezaun und raste geradewegs auf einen großen Baum zu. Während das Hindernis wie in Zeitlupe immer näher kam, trat sie die Bremse bis zum Anschlag durch, drehte wild am Lenkrad und zog schließlich noch die Handbremse. Sie stellte noch erleichtert fest, dass an diesem Tag keine Pferde auf der Koppel standen. Der Wagen stoppte schließlich kurz vor dem Baum.
Drei Sekunden – länger hatte der ganze Vorfall nicht gedauert. In diesen drei Sekunden zog ihr Leben nicht wie in einem Film an ihr vorbei. Ihre Gedanken waren ungleich trivialer. Sie ärgerte sich. Gerade hatte sie eine Inspektion machen und die Klimaanlage reinigen lassen. Das Geld hätte sie sich sparen können. Das Auto war nun ein Totalschaden.
Körper und Geist verändern das Zeitgefühl
Solche Extremsituationen sind prominente Beispiele für die subjektive Dehnung des Augenblicks. Alle Ereignisse scheinen in diesem Moment verlangsamt abzulaufen. Auch wer derlei Schrecksekunden noch nicht erlebt hat, kennt diesen Effekt aus Filmen. In emotional verdichteten Schlüsselszenen greifen viele Filmemacher gerne auf die Zeitlupe zurück. In der Unfallsequenz aus Claude Sautets „Die Dinge des Lebens“ hofft Michel Piccoli fast zwei Minuten lang auf einen guten Ausgang. In der Wirklichkeit dürfte das tragische Geschehen dagegen kaum länger als vier Sekunden gedauert haben.
Der Grund für diesen Zeitlupeneffekt ist letztlich der gleiche wie beim Fieber von Anna Hoagland. Die durch die besonderen Umstände gesteigerte körperliche Aktivierung führt zu einem verlangsamten Zeitempfinden.
Doch nach Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg, einem Experten in Sachen Zeiterleben, gibt es neben der physiologischen Aktivität einen zweiten Faktor, der zum gleichen Ergebnis führt: Je mehr wir uns auf die Zeit selbst konzentrieren, sie bewusst wahrnehmen, desto gedehnter erscheint sie uns.
Um diese Erkenntnis nachzuvollziehen, braucht es keinen Unfall. Eine möglichst lange Schlange im Supermarkt oder ein volles Wartezimmer genügen. Jeder kennt das: In Momenten, die uns zum Innehalten zwingen, scheint die Zeit einfach nicht vergehen zu wollen.
Autor: Philippe Patra/ Forschungszentrum Jülich