Medizin

Corona: Rätsel um unbemerkte Luftnot

Warum löst der Sauerstoffmangel bei einigen Covid-19-Patienten keine Atemnot aus?

Coronavirus Lunge
Das Coronavirus greift die Lunge an und führt zu Sauerstoffmangel – aber nicht alle Patienten merken dies. © wildpixel/ iStock.com

Merkwürdiges Phänomen: Einige Patienten mit Covid-19 leiden unter schwerem Sauerstoffmangel ohne es zu merken. Selbst lebensbedrohliche Werte lösen bei ihnen keine Atemnot aus. Was dahinter steckt und ob das Coronavirus möglicherweise direkt die Atemregulation stört, wird zurzeit unter Medizinern diskutiert. Ein Forscherteam präsentiert nun erste Erklärungsansätze zu diesem „stille Hypoxämie“ getauften Phänomen.

Zu den Hauptsymptomen für einen schweren Verlauf von Covid-19 gehören Atemnot und eine gesunkene Sauerstoffsättigung im Blut: Weil die Lunge vom Coronavirus SARS-CoV-2 angegriffen ist, gelangt nicht mehr genügend Sauerstoff in Blut und Organe. Auch Blutgerinnsel in den Lungenadern können den Gasaustausch hemmen. Gleichzeitig wird nicht genügend Kohlendioxid abgegeben und der CO2-Gehalt steigt an.

Normalerweise sorgt dies für eine prompte Reaktion: Sensoren in den Halsschlagadern senden ein Alarmsignal an das Atemzentrum im Hirnstamm, sobald der Partialdruck des Sauerstoffs unter 60 Millimeter Quecksilber (mmHg) sinkt und der CO2-Gehalt 39 mmHg übersteigt. Das Atemzentrum sendet dann Befehle an die Nerven des Brustraums, die zur Intensivierung der Atmung führen – wir atmen unwillkürlich tiefer und schneller. Eine Rückmeldung an das Großhirn erzeugt parallel das Gefühl der Atemnot.

Sauerstoffmangel ohne Atemnot

Doch es gibt Patienten mit Covid-19, bei denen dieses Alarmsystem komplett ausgefallen scheint. Ihre Sauerstoffsättigung ist so niedrig, dass sie eigentlich ohnmächtig sein müssten, dennoch merken sie nichts davon und können sogar noch problemlos laufen, sprechen und telefonieren. „Für Mediziner ist diese stille Hypoxämie extrem verwirrend, weil sie der grundlegenden Biologie zu widersprechen scheint“, erklären Martin Tobin von der Loyola University of Chicago und seine Kollegen.

Sie berichten von einem Fall, bei dem ein 74-jähriger Patient nur noch einen Sauerstoffpartialdruck von 34 mmHg aufwies. Seine Sauerstoffsättigung im Blut war auf nur noch 62 Prozent gesunken – das gilt als akut lebensbedrohlich. „Aber bei seiner Befragung gab er konsistent an, keinerlei Atemnot zu verspüren und sich wohlzufühlen“, so die Mediziner. Von 16 weiteren Patienten mit unbemerktem Sauerstoffmangel hatten sieben auch deutlich erhöhte CO2-Werte. Trotzdem blieb ihre Luftnot „stumm“.

Alter, Fieber und Diabetes

Wie ist das zu erklären? Nach Angaben von Tobin und seinen Kollegen könnten dafür mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Einer ist das Alter der Patienten: „Bei Menschen, die älter sind als 65 Jahre, ist die Atemreaktion auf Sauerstoffmangel um 50 Prozent geringer“, erklären sie. „Es ist daher wahrscheinlich, dass gerade ältere Covid-19-Patienten häufiger eine stille Hypoxämie entwickeln.“ Auch eine Diabetes-Erkrankung schwäche die Atemreaktion ähnlich stark.

Ein weiterer Faktor könnte Fieber sein: Weil eine erhöhte Körpertemperatur das Lösungsverhalten von Sauerstoff verändert, sinkt bei Fieber die Sauerstoffsättigung im Blut – obwohl der Partialdruck gleichbleibt. „Diese Verschiebung kann demnach substanzielle Entsättigungen hervorrufen, ohne dass dies die Regulation durch die Halsschlagader-Sensoren beeinflusst, denn diese reagieren nur auf den Partialdruck“, erklären Tobin und sein Team.

Einige Fälle der stillen Hypoxämie könnten daher ihrer Ansicht nach schlicht auf unzureichende Messung zurückgehen: Misst man nur die Sauerstoffsättigung mit einem Pulsoximeter, kann dies bei Fieberpatienten täuschen – und sogar zu unnötiger Beatmung führen. „Ein Pulsoximeter ist sehr genau, wenn die Sauerstoffwerte hoch sind, aber bei niedrigen Werten zeigt es oft zu geringe Werte an“, so Tobin.

Greift das Virus das Atemsystem an?

Allerdings: Diese Faktoren allein können nicht alle Fälle der stillen Hypoxämie bei Covid-19 erklären. Die Forscher vermuten daher, dass auch das Coronavirus die Atemregulation manipuliert. Wie sie erklären, ist der ACE2-Rezeptor, den das Virus zum Eintritt in die Zellen nutzt, auch an den Stellen der Halsschlagader vorhanden, an denen die Sauerstoffsensoren des Körpers sitzen. Gleichzeitig wisse man, dass SARS-CoV-2 über die Nasenschleimhaut und die Riechnerven auch ins Gehirn gelangen kann.

Es wäre daher durchaus denkbar, dass das Coronavirus sowohl die Sensoren als auch das Atemzentrum im Gehirn direkt angreift und ihre Funktion beeinträchtigt. „Das Virus könnte einen spezifischen Effekt auf das Kontrollsystem der Atmung haben“, so Tobin und seine Kollegen. Ob das der Fall ist, müsse man aber erst noch weiter untersuchen.

Nicht überreagieren

Nach Ansicht der Wissenschaftler ist es wichtig, bei Covid-19-Patienten mit stiller Hypoxämie nicht überzureagieren. „Die neuen Erkenntnisse könnten helfen, unnötige Intubationen und mechanische Beatmung zu vermeiden, die auch Risiken bergen“, sagt Tobin. Ähnlich sieht es Luciano Gattinoni von der Universitätsmedizin Göttingen, der laut „Science“ ebenfalls vor einer „Pawlowschen Reaktion“ auf Sauerstoffmangel bei Covid-19 warnte. (American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine, 2020; doi: 10.1164/rccm.202006-2157CP)

Quelle: Loyola University Health System, Science Magazine

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