Seefahrende Seuchenträger: DNA aus Wikingergebeinen enthüllt, dass die Nordmänner schon vor 1.400 Jahren an Pocken erkrankten. Dies belegt erstmals, dass dieses Virus schon damals in Europa zirkulierte – und nicht erst von Kreuzrittern aus dem Nahen Osten eingeschleppt wurde. Überraschend jedoch: Das Pockenvirus der Wikinger gehörte zu anderen Stamm als die modernen Pockenviren, wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten.
Die Pocken gehören zu den große Seuchen der Menschheit – allein im 20. Jahrhundert starben geschätzt 300 bis 500 Millionen Menschen an dieser Viruserkrankung. Erst eine weltweite Impfkampagne führte dazu, dass die Pocken seit 40 Jahren als ausgerottet gelten. Letzte Proben des Erregers Orthopoxvirus variolae existieren nur noch in zwei Hochsicherheitslaboren in Russland und den USA.
Rätsel um den Ursprung der Pocken
Allerdings: Das bedeutet nicht, dass nie wieder Pocken auftreten können. Denn bei Tieren gibt es noch immer verschiedene Pockenviren, unter anderem bei Affen, Kühen, Kamelen, Nagetieren und Eichhörnchen. Und auch das humane Pockenvirus ist einst von einem Tier – vermutlich einem Nager – auf den Menschen übergesprungen. „Die Pocken sind zwar ausgerottet, aber ein anderer Stamm könnte schon morgen aus einem dieser Tierreservoire wieder den Artsprung schaffen“, sagt Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen.
Umso wichtiger ist es, den Ursprung und die Evolution des auch als Variolavirus bezeichneten Pockenerregers zu kennen. Doch bisher ist unbekannt, wann und wo dieses Virus auf den Menschen übersprang. Historische Berichte reichen zwar Jahrtausende zurück und auch die Mumie des ägyptischen Pharaos Ramses V. weist pockenähnliche Hautveränderungen auf. Die frühesten eindeutigen Belege des Pockenvirus bei einem Menschen stammen aber erst von einer litauischen Mumie aus dem 17. Jahrhundert.
Infizierte Wikinger
Doch jetzt lieferte eine DNA-Studie neue, überraschende Einblicke in die Geschichte der Pocken. Forscher um Willerslev und Barbara Mühlemann von der Charité Universitätsmedizin in Berlin haben dafür Gewebeproben von 1.867 Verstorbenen aus der Zeit vor 31.630 bis 150 Jahren nach Spuren von Pockenvirus-DNA durchsucht.
Tatsächlich wurden die Forscher bei 13 Proben fündig. Zwei davon stammten aus dem 19. Jahrhundert, elf jedoch kamen aus 1.400 bis 950 Jahre alten Wikingergräbern in Nordeuropa, Großbritannien und Westrussland. Aus vier der Wikingerproben konnten Mühlemann und ihr Team fast das komplette Genom der in diesen Toten vorkommenden Pockenviren rekonstruieren. „Wir wissen zwar nicht, ob diese Pockenviren den Tod der Wikinger verursacht haben, aber sie starben mit dem Pockenvirus in ihrem Blut“, erklärt Willerslevs Kollege Martin Sikora.
Mit den Nordmännern verbreitet
Das aber bedeutet: Schon vor 1400 Jahren in Nordeuropa grassierten die Pocken in Nordeuropa. „Die Sequenzen aus der Wikingerzeit verschieben das Datum der frühesten nachweisbaren Pockenvirus-Infektion um 1000 Jahre in die Vergangenheit“, berichten Mühlemann und ihre Kollegen. Gleichzeitig widerlege dies die Annahme, dass das Virus erst durch zurückkehrende Kreuzritter, die Invasion der Mauren oder die Eroberung Englands durch die Normannen nach Europa gekommen sei.
Stattdessen trugen schon einige Wikinger ein Pockenvirus in sich, das sie möglicherweise auf ihren Reisen in Europa verbreiteten. „Wir wissen, dass die Wikinger sich quer durch Europa und darüber hinaus bewegten und jetzt wissen wir auch, dass sie die Pocken hatten“, sagt Willerslev. „Ähnlich wie Reisende heute Covid-19 verbreiten, taten dies auch die Wikinger mit den Pocken – nur dass sie per Schiff reisten statt mit dem Flugzeug.“
Wikingerpocken gehörten zu einem anderen Stamm
Überraschend auch: Die unter den Wikingern grassierenden Pockenviren gehörten zu einem anderen Stamm als die modernen Variolaviren, wie DNA-Vergleiche ergaben. „Diese frühe Version der Pocken ähnelt Tierpocken wie den Kamelpocken oder den Nagetierpocken stärker als den modernen Pockenviren“, sagt Koautor Lasse Vinner von der Universität Kopenhagen. Die Wikinger-Pocken stellen eine Schwestergruppe der modernen Pockenviren dar, beide entwickelten sich vor rund 1.700 Jahren aus einem gemeinsamen Vorfahren.
„In den Wikingern Pockenviren zu finden, die genetisch so anders sind, ist wirklich bemerkenswert“, sagt Mühlemanns Kollege Terry Jones. „Keiner hat erwartet, dass solche Pockenvirus-Stämme existierten.“ Offenbar grassierten die Wikinger-Pocken rund 450 Jahre lang unter Wikingern und anderen Europäern und bildeten sogar zwei verschiedenen Varianten aus. Dann jedoch verschwanden diese Virenstämme – warum, ist unbekannt.
Spuren genetischer Evolution
„Wir wissen nicht, wie sich die Krankheit in der Wikingerzeit manifestierte. Sie könnte aber anders verlaufen sein als bei dem virulenten modernen Stamm, der hunderte Millionen Menschen entstellte und tötete“, sagt Vinner. So legen die Vergleiche nahe, dass die Wikingerpocken noch einige Gene besaßen, die ihnen ein breiteres Wirtspektrum eröffneten, sie dafür aber möglicherweise weniger aggressiv und tödlich machten.
Die modernen Pocken entwickelten unabhängig von den Wikingerpocken ebenfalls genetische Veränderungen. Sie blieben aber bis zu ihrer Ausrottung durch die Impfkampagnen in der Menschheit erhalten. Auch wenn noch lange nicht alle Fragen geklärt sind, geben die Ergebnisse dieser Studie damit wertvolle neue Einblicke in die Evolution der Pocken und ihre Ausbreitung in Europa. (Science, 2020; doi: 10.1126/science.aaw8977)
Quelle: University of Cambridge