Physik

Dunkle Materie: Rätsel um Detektor-Signal

Physiker suchen nach einer Erklärung für den Signal-Überschuss im XENON1T-Detektor

Xenon
Irgendetwas hat die Xenon-Atome im Tank des XENON1T-Detektor getroffen und diese zur Abgabe von Licht gebracht – aber was? © APS/ Alan Stonebraker

Mysteriöse Anomalie: Physiker suchen nach einer Erklärung für den auffälligen Signal-Überschuss im Dunkle-Materie-Detektor XENON1T. In sechs Fachartikeln haben sie verschiedenste Ursachen für das Signal vorgeschlagen. Unter ihnen sind exotische Neutrinos, „luminöse“ Teilchen der Dunklen Materie, solare Axionen oder auch leichtgewichtige Varianten der WIMPs – der hypothetischen Teilchen, die lange als Favorit für die Partikel der Dunklen Materie galten.

Ob im Sonnensystem, im Halo von Galaxien oder als „Klumpen“ in unserer Milchstraße: Die Dunkle Materie ist überall – und gleichzeitig eines der größten Rätsel des Kosmos. Denn noch immer ist völlig unbekannt, aus was sie besteht. Und nicht einmal über ihre Eigenschaften herrscht Einigkeit. Wissenschaftler versuchen deshalb, dieser exotischen, unsichtbaren Materieform und ihren Teilchen durch astronomische Beobachtungen, vor allem aber durch Detektoren auf die Spur zu kommen.

XENON1T
Blick auf den Xenon-Tank (links) und das dreistöckige unterirdische Service-Gebäude von XENON1T. © XENON-Kollaboration

Lichtblitze im Xenon-Tank

Einer der sensibelsten Dunkle-Materie-Detektoren ist XENON1T, ein von Photodetektoren umringter und mit flüssigem Xenon gefüllter Tank unter den italienischen Alpen. Er sollte ursprünglich dabei helfen, den favorisierten Kandidaten für Dunkle-Materie-Teilchen, die Weakly Interacting Massive Particles (WIMP) nachzuweisen. Trifft ein solches WIMP auf ein Xenon-Atom, sendet dieses überschüssige Energie in Form eines Lichtblitzes aus.

Tatsächlich registrierte der XENON1T-Detektor solche Lichtblitze: Im Juni 2020 meldeten die Forscher einen Signal-Überschuss mit einer Signifikanz von 3,5 Sigma. Das Problem jedoch: Diese Signale passen nicht zu den von WIMPs erwarteten. Denn aus den Daten geht hervor, dass die auslösenden Teilchen nicht den Kern, sondern vornehmlich die Elektronen der Xenon-Atome getroffen haben. Zudem übertrug jede dieser Kollisionen nur eine Energie von wenigen Kiloelektronenvolt auf die Atome – zu wenig für ein WIMP.

Stecken solare Axionen dahinter?

Was aber hat dann diese rätselhaften Signale verursacht? Dazu haben jetzt fünf Physikerteams und auch die XENON1T-Forscher Hypothesen veröffentlicht – und alle sind grundverschieden. Eine mögliche Erklärung wären demnach Axionen – hypothetische Teilchen, die als leichtgewichtiger Kandidat für Dunkle-Materie-Teilchen gelten. Zwar haben die „dunklen“ Axionen eine zu geringe Masse, um die Signale zu erklären, anders ist dies aber für eine ebenfalls hypothetische Variante der Axionen, die in der Sonne und anderen Sternen entstehen könnten.

„Solche solaren Axionen hätten Energien im Kiloelektronenolt-Bereich und könnten diese an die Detektoratome übertragen haben“, sagen Elena Aprile und ihre Kollegen von der Xenon-Kollaboration. Wenn es solche Axionen aber gibt, müssten sie das thermische Verhalten von Sternen auf eine Weise beeinflussen, die astrophysikalischen Beobachtungen widerspricht.

Eine Lösung für dieses Dilemma schlagen allerdings nun Fuminobu Takahashi von der Tohoku Universität und sein Team vor. Ihrem Modell zufolge könnte es solare Axionen geben, die weniger stark mit den Photonen der Sonne und der anderen Sterne interagieren als bislang angenommen. Allerdings: Das erklärt zwar das Signal, hätte aber nichts mit Dunkler Materie zu tun.

Können Dunkle-Materie-Teilchen zerfallen?

Die Dunkle Materie als Urheber sehen dagegen andere Forschergruppen. Nach Ansicht von Bartosz Fornal von der University of Utah und seinem Team könnte das XENON1T-Signal von „beschleunigter“ Dunkler Materie (BDM) stammen. Demnach stammen die Lichtblitze von Teilchen der Dunklen Materie, die durch die gegenseitige Annihilation benachbarter Teilchen einen zusätzlichen Schub bekommen haben. „Dann könnte ein Strom beschleunigter Dunkler Materie von den Annihilationen im galaktischen Zentrum oder dem Halo ausgehen“, so die Physiker.

Demgegenüber sehen Physiker der Queen’s University eher die Wechselwirkung von einer WIMP-Variante mit Dunklen Photonen als Ursache. Sie könnte zu einem Zerfall der WIMPs in Teilchen führen, deren Energie im Kiloelektronenvolt-Bereich liegen. Auch Nicole Bell von der University of Melbourne und ihr Team gehen vom Zerfall der Teilchen aus: Ihr Kandidat, „luminöse“ Dunkle Materie, könnte durch Kollisionen in schwerere und leichtere Zustände zerfallen, von denen letztere dann die Xenon-Atome getroffen haben.

Oder sind es doch exotische Neutrinos?

Nicht die Dunkle Materie, sondern die Sonne sieht dagegen ein Team um Andreas Bally vom Max-Planck-Institut für Kernphysik als Ursache des XENON1T-Signals. Sie postulieren, dass solare Neutrinos durch Wechselwirkung mit anderen Neutrinos oder Teilchen wie dem Higgs-Boson in eine neue, nicht im Standardmodell enthaltenen Neutrinosorte umgewandelt wird. Diese könnte dann genügend Masse besitzen, um das Drei-Kiloelektronenevolt-Signal zu erzeugen.

Tatsächlich ziehen auch die Physiker der XENON-Kollaboration Neutrinos als eine der möglichen Ursachen in Betracht. Sie könnten das Signal erzeugt haben, wenn diese Neutrinos ein größeres magnetisches Moment besitzen als vom Standardmodell der Teilchenphysik vorgesehen. Mit einem Sigma von 3,2 liegt diese Hypothese ihren Berechnungen zufolge nur knapp hinter solaren Axionen, was die Wahrscheinlichkeit angeht.

Das Rätsel bleibt

Allerdings: Bisher sind alle diese Erklärungsversuche nur Hypothesen – weder für die dafür nötigen Teilchen noch für die postulierten Prozesse gibt es bislang Belege. „Die Ideen, die sich rund um dieses Ergebnis ranken zeigen, wie viel sich auf dem Gebiet der Dunklen-Materie-Forschung tut“, kommentiert Tongyan Lin von der University of California in San Diego. Doch vorerst bleibt die Dunkle Seite des Kosmos genau dies – dunkel. (Physical Review Letters, 2020; doi: 10.1103/PhysRevD.102.072004, doi: 10.1103/PhysRevLett.125.161801, doi: 10.1103/PhysRevLett.125.161805, doi: 10.1103/PhysRevLett.125.161804, doi: 10.1103/PhysRevLett.125.161803, doi: 10.1103/PhysRevLett.125.161802)

Quelle: American Physical Society

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