Zellstress im All: Viele typische Folgen von Weltraumflügen könnten auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen – Schäden an den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen. Das enthüllt die bislang umfassendste Auswertung medizinischer Daten von der ISS. Demnach verändert der Aufenthalt im All die Mitochondrien in nahezu allen Geweben und Organen und das wiederum hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Immunsystem, den Fettstoffwechsel und sogar den Haarwuchs.
Raumfahrt ist ungesund: Die erhöhte Strahlenbelastung und fehlende Schwerkraft verursachen bei Astronauten nicht nur Muskelschwund, Knochenabbau und Fieber, auch das Herz-Kreislaufsystem, das Erbgut und sogar das Gehirn werden beeinträchtigt, wie Studien mit Apollo- und ISS-Astronauten belegen. Trotzdem aber planen Raumfahrtagenturen bereits Langzeitmissionen, die Astronauten zurück auf den Mond und bis zum Mars bringen sollen.
Ursachenfahndung mit „Multi-Omics“
Umso wichtiger ist es, die möglichen Folgen solcher Raumfahrtmissionen genauer zu kennen. Angesichts der Fülle verschiedener Symptome stellt sich dabei vor allem eine Frage: „Wir wollten wissen, ob dabei im Körper der Astronauten vielleicht ein universeller Mechanismus abläuft, der all diese Beobachtungen erklären könnte“, sagt Studienleiter Afshin Beheshti vom Ames Research Center der NASA.
Um das herauszufinden, haben mehrere interdisziplinäre Teams alle bislang verfügbaren Daten von Zellkulturen, Mäusen und 59 Astronauten mit einem „Multi-Omics“-Ansatz ausgewertet. Sie analysierten dafür die Genaktivität und Proteinsynthese, den Stoffwechsel und das Epigenom von der Zelle bis zur Organebene.
Immer sind die Mitochondrien betroffen
Das überraschende Ergebnis: „Obwohl wir alle unterschiedliche Gewebe und Merkmale untersuchten, kamen wir alle zum gleichen Schluss: Der Aufenthalt im All beeinträchtigt die Funktion der Mitochondrien“, berichtet Evagelia Laiakis von der Georgetown University in Washington DC. Die Mitochondrien sind unverzichtbare Komponenten unserer Zellen, denn sie liefern mit dem Molekül ATP die Energie, die alle Vorgänge und Prozesse in unserem Körper antreibt.
Entsprechend folgenreich ist es, wenn diese Kraftwerke der Zelle nicht mehr richtig funktionieren. Doch genau das scheint zu passieren, wenn Astronauten sich länger im Weltraum aufhalten. „Wieder und wieder stellten wir fest, dass etwas mit der Regulation der Mitochondrien passiert, das dann alles andere aus dem Tritt bringt“, erklärt Beheshti. „Das war wirklich überraschend, weil wir uns vorher immer auf alle Folgeschäden konzentriert haben, aber nie den Zusammenhang erkannt haben.“
Zellstress in allen Geweben
Konkret stellten die Forscher fest, dass in allen untersuchten Geweben und Organen die Genaktivität und der Stoffwechsel der Mitochondrien signifikant verändert waren. „Wir verglichen die Gewebe von Mäusen, die auf der ISS gewesen waren und sahen überall mitochondriale Dysfunktionen. Dann untersuchten wir ihre Leber und auch dort waren die Mitochondrien die Basis der Probleme. Und dann schauten wir im Auge nach und wurden auch dort fündig“, sagt Beheshti. Ähnliches zeigte sich auch bei den Astronauten-Proben.
Zusammengenommen ergaben die Analysen, dass der Aufenthalt im Weltraum die Mitochondrien unter starken Stress setzt. Dadurch verändern sich ihre Genaktivität und zellinternen Prozesse, was zu einer teils verringerten, teils übersteigerten Funktion führt. Das wiederum verursacht in nahezu allen Geweben verstärkten Zellstress und eine verringerten Abwehr gegenüber aggressiven Oxidationsreaktionen, so die Forscher.
Folgen für Immunsystem, Fettstoffwechsel und Leber
Sichtbar wird der Mitochondrien-Stress unter anderem in Abbauprodukten im Blut und Urin der Astronauten, die auf vermehrte DNA-Schäden sowie Störungen des Immunsystems und des Stoffwechsels hindeuten. So ist die Produktion der T-Abwehrzellen verringert, dafür werden viele Entzündungsbotenstoffe hochreguliert. Sogar die Haarwurzeln sind von den mitochondrialen Veränderungen betroffen – das könnte erklären, warum der Haarwuchs im All oft stagniert.
In besonderem Maße betroffen ist auch die Leber – ihre Zellen sind bei Astronauten besonders aktiv und gestresst, wie die Analysen ergaben. Das hat Folgen: Die Leber ist unter anderem für den Fettstoffwechsel zuständig und reguliert auch die Blutfette – genau die aber sind bei Astronauten aus dem Gleichgewicht. Das wiederum erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Die Fehlfunktion der Mitochondrien kann schlaganfallähnliche Episoden auslösen“, berichten Beheshti und sein Team.
Medikamente für Astronauten?
Zusammen genommen bedeutet dies, dass Langzeitmissionen die Biologie des Menschen offenbar tiefgreifender beeinflusst als bislang angenommen. Denn der Aufenthalt im All löst den neuen Erkenntnissen zufolge ähnliche Veränderungen aus, wie manche mitochondriale Erkrankungen. Und ähnlich wie bei diesen hat dies Auswirkungen auf den gesamten Körper. „Das könnte kumulative Langzeitfolgen haben, die solche Reisen ohne effektive Gegenmaßnahmen kaum überlebbar machen“, konstatieren die Forscher.
Hinzu kommt: Das bereits übliche körperliche Training hilft zwar gegen den Muskel- und Knochenabbau. Gleichzeitig aber verstärkt es die Belastung der Leber und führt zu einer verstärkten Ausschüttung von Entzündungs-Botenstoffen, wie die Analysen ergaben. Nach Ansicht der Wissenschaftler sollten künftige Astronauten daher ähnlich wie Patienten mit Mitochondrien-Krankheiten entsprechende Medikamente bekommen.
„Es gibt schon jetzt Arzneimittel für verschiedene Mitochondrien-Krankheiten, die die Entwicklung solcher pharmakologischen Gegenmaßnahmen erleichtern könnten“, sagt Beheshti. Wie gut diese Wirkstoffe gegen die „Astronautenkrankheit“ helfen, könnte man schon in naher Zukunft auf der ISS testen -zunächst mit Zellkulturen und Mäusen. (Cell, 2020; doi: 10.1016/j.cell.2020.11.002)
Quelle: Cell Press